Qiu Xiaolong
mit kochendem Wasser und am anderen ein Tablett mit den Teighüllen, gehacktem Schweinefleisch, Gemüse, Schalen, Löffeln und Stäbchen. Sie macht ihr Geschäft, wenn die Restaurants geschlossen haben, und bereitet den Kunden auf der Straße an Ort und Stelle Teigtäschchen zu. In drei Minuten hat sie Ihnen eine dampfende Schale bereitet.«
»Das ist praktisch! Ich wünschte, es gäbe so eine Frau auch da, wo ich wohne«, sagte Chen, der auch den anderen Spitznamen des Alten Jägers kannte, »Suzhou-Opernsänger«, eine Anspielung auf eine Opernform im Dialekt des Südens, die dafür bekannt war, daß ihre Darsteller eine Geschichte durch Ausschmückungen endlos in die Länge zogen. »Also, was hat sie erzählt?«
»Darauf wollte ich gerade kommen.« Der Alte Jäger trank seinen Tee gemächlich und mit sichtlichem Vergnügen. »Eine Geschichte muß von Anfang an erzählt werden. Werden Sie nicht ungeduldig, Genosse Oberinspektor. Also, Jiao hat mehrmals spätnachts gesehen, daß ein Wagen auf der anderen Straßenseite hielt. Aus nur drei Metern Entfernung. Aus dem Wagen stieg immer dieselbe junge Frau, die eilig zu dem Gebäude des Wohnheims am Eingang der Qinghe Lane ging. Das Wohnheim befand sich in einiger Entfernung von Jiaos Standort, sie konnte also nichts Genaues erkennen, und anfangs sah sie auch nicht genau hin. Es ging sie nichts an. Aber sie wurde immer neugieriger. Warum hielt der Wagen nie direkt an der Gasse? Das wäre problemlos möglich gewesen. Es war nicht angenehm für eine junge Frau, allein, mitten in der Nacht, so weit zu gehen. Jiao war, glaube ich, auch etwas verärgert, weil diese geheimnisvolle Frau nie zu ihr hinüberkam, um eine Schale Teigtäschchen zu kaufen. Eines Nachts zog sie mit ihrer Miniküche auf die andere Seite der Straße. Sie hatte die Genehmigung, auf der Hubei Lu zu arbeiten, es war also egal, wo sie sich hinstellte. Tatsächlich, der Wagen kam wieder …«
»Und wen sah sie?« Chen wurde allmählich ungeduldig.
»Niemand anderen als Guan Hongying. Die prominente nationale Modellarbeiterin. Jiao erkannte sie sofort, weil sie Guans Bild so oft in den Zeitungen und im Fernsehen gesehen hatte. Guan ging sehr schnell und sah sich nie um.«
»War noch jemand bei Guan?«
»Nein, nur der Mann, der den Wagen fuhr.«
»Hat sie ihn gesehen?«
»Nicht genau. Er blieb im Wagen.«
»Was war das für ein Wagen?«
»Ein schicker Schlitten. Weiß. Vielleicht importiert. Sie konnte mir nicht sagen, was für ein Fabrikat es war. Aber kein Taxi. Er hatte kein Taxischild auf dem Dach.«
»Könnte außer dem Fahrer noch jemand im Fahrzeug gewesen sein?«
»Nein. Sie ist sich ziemlich sicher, daß nur eine Person im Wagen saß.«
»Wie kann sie sich da so sicher sein?«
»Sie hat beobachtet, was Guan tat. Jedesmal bevor sie zum Wohnheim ging, beugte sie sich auf der Fahrerseite ins Fenster hinein.«
»Was bedeutete das?«
»Guan lehnte sich ins Fenster, um jemandem einen langen, leidenschaftlichen Kuß zu geben.«
»Ah, ich verstehe.« Das klang fast wie eine Szene aus einem romantischen Film, aber die Straßenhändlerin mochte recht haben.
»Entschuldigen Sie, Onkel Yu. Ich bin nur neugierig«, sagte Chen. »Wie ist sie denn dazu gekommen, Ihnen das alles zu erzählen?«
Der Alte Jäger nahm absichtlich langsam einen Schluck Tee, bevor er zum Höhepunkt seiner Geschichte kam.
»Ich verrate Ihnen ein Geheimnis, aber erzählen Sie es weder Guangming noch sonst jemandem. Außerdem können Sie das Lob dafür einstecken, die Zeugin gefunden zu haben.«
»Ich werde niemandem davon erzählen, aber das Lob gebührt Ihnen.«
»Das ist eine lange Geschichte. Nach meiner Pensionierung beschloß ich, niemandem auf die Nerven zu gehen. Ich habe zu viele Polizisten erlebt, die jeden Schritt ihrer Enkel überwachen. Ich wollte einfach herumlaufen und verschiedene Stadtteile besuchen, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte. Shanghai hat sich so sehr verändert. Aus Slums sind Parkplätze geworden, aus Parks Fabriken, ein paar Straßen sind sogar ganz verschwunden. Aber bald hatte ich alles gesehen. Um mich nicht zu langweilen, begann ich für das Straßensicherheitskomitee als eine Art Wachhund zu arbeiten. Eine der Gegenden, wo ich Streife gegangen bin, ist der Lebensmittelmarkt in der Fuzhou Lu.«
»Arbeiten Sie noch dort?«
»Ja.«
»Also patrouillieren Sie den Markt auf der Fuzhou Lu.«
»Ich kann überall am Markt oder in der Umgebung des Marktes Posten beziehen. Heutzutage
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