Qiu Xiaolong
dürfen diese Straßenhändler auch außerhalb der Märkte tätig sein. Deshalb postiere ich mich in der letzten Zeit in der Nähe der Qinghe Lane und habe Jiao zufällig dabei erwischt, wie sie ihre Teigtaschen mit gehacktem Schweinefleisch füllte, das nicht frisch war. Für so etwas könnte man ihr die Genehmigung entziehen. Ich erklärte ihr, daß ich Polizist sei und daß mein Sohn im Präsidium arbeite. Damit jagte ich ihr einen gewaltigen Schrecken ein. Ich vermutete, daß sie von Guans Tod gehört hätte, da sie ja in der Gegend arbeitet. Ich hakte ein bißchen nach und fragte sie, ob sie nicht etwas wisse. Und siehe da, dafür, daß ich sie nicht auf die Polizeiwache geschleppt habe, rückte sie mit etwas heraus.«
»Sie sind gar nicht im Ruhestand, Onkel Yu. Sie sind erfahren und findig.«
»Ich bin froh, daß diese Informationen Ihnen von Nutzen sind. Falls erforderlich, wird sie vor Gericht als Zeugin aussagen. Dafür werde ich schon sorgen.«
»Vielen, vielen Dank. Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll.«
»Keine Sorge. Raten Sie, warum ich mit Ihnen reden wollte«, sagte der Alte Jäger und schaute in seine Teetasse anstatt auf Chen. »Ich verfüge immer noch über einige Beziehungen im Präsidium und anderswo. Ich bin ein pensionierter Niemand, deshalb nehmen sich die Leute nicht so in acht, wenn sie sich mit mir unterhalten.«
»Natürlich, man hat Vertrauen zu Ihnen«, bestätigte Chen.
»Ich bin alt. Nichts kümmert mich mehr wirklich. Sie sind noch jung. Sie tun das Richtige. Ein aufrechter Polizist, davon gibt es heutzutage nicht mehr viele. Es gibt jedoch einige Leute, denen es nicht gefällt, daß Sie das Richtige tun. Einige Leute ganz weit oben.«
Der Alte Jäger hatte ihn also aus einem bestimmten Grund hergebeten. Chen hatte ganz oben für Aufregung gesorgt. Und darüber wurde geredet. Wurde er vielleicht schon überwacht?
»Diese Leute können gefährlich sein. Sie hören Ihr Telefon ab oder bringen Wanzen in Ihrem Wagen an. Das sind keine Amateure. Also passen Sie auf sich auf.«
»Danke, Onkel Yu, das werde ich tun.«
»Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Und ich bin froh, daß Sie mit Guangming zusammenarbeiten.«
»Ich glaube immer noch, daß die Gerechtigkeit siegen wird«, sagte Chen.
»Ich auch«, sagte der Alte Jäger und hob die Tasse. »Lassen Sie mich eine Schale Tee auf Ihren Erfolg trinken.«
Wenn er darauf beharrte, die Ermittlungen fortzusetzen, dachte Chen düster, während er den vollen Basar um den Stadtgott-Tempel verließ, war das womöglich sein letzter Fall als Oberinspektor. Würde er unter dem Druck einknicken, war es womöglich gleichfalls sein letzter Fall. Denn dann könnte er sich weder als ehrlichen Polizisten noch als Mann mit reinem Gewissen bezeichnen.
27
ALS CHEN auf die Henan Lu kam, schien es ihm, als bemerke er einen Mann mittleren Alters in einem braunen T-Shirt, der ständig hinter ihm herging, immer in einem gewissen Abstand, doch nie ganz außer Sichtweite. Das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden, so daß jede seiner Bewegungen registriert, er auf Schritt und Tritt verfolgt wurde, war eine neue Erfahrung. Doch als er einen Lebensmittelladen betrat, ging der Mann vorbei, ohne den Schritt zu verlangsamen. Chen seufzte erleichtert. Vielleicht war er zu nervös. Es war schon nach vier. Er war nicht in Stimmung, zurück ins Präsidium zu gehen. So beschloß er, seine Mutter aufzusuchen, die in einer kleinen, ruhigen, geschotterten Seitengasse der Jiujiang Lu wohnte.
Er machte einen Umweg, um im Himmlischen Geschmack, einem neuen, privat geführten Delikatessengeschäft, ein Pfund Spanferkelfleisch zu kaufen. Die Haut des Spanferkels sah golden und knusprig aus. Das würde ihr schmecken. Sie war zwar schon über siebzig, aber ihre Zähne waren noch gut. Er hatte seit Tagen nicht mehr an sie gedacht. Er hatte sogar vergessen, ihr etwas aus Guangzhou mitzubringen. Chen hatte ein schlechtes Gewissen; er war ihr einziger Sohn.
Als das alte Haus in Sicht kam, erschien es ihm plötzlich fremd, fast nicht wiederzuerkennen, obwohl er dort mit seiner Mutter viele Jahre gewohnt hatte und erst seit einigen Monaten in seiner eigenen Wohnung lebte. Die Gemeinschaftsspüle neben der Vordertür war so feucht, daß er um den Wasserhahn herum dichtes Moos sprießen sah. Die rissigen Wände hätten einmal ordentlich saniert und gestrichen werden müssen. Das Treppenhaus war muffig und dunkel, auf den Treppenabsätzen türmten sich
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