Qiu Xiaolong
Pappkisten und Körbe. Einige standen vermutlich seit Jahren hier.
Chens Mutter hob sich wie ein Schatten von dem Licht ab, das durch den halb über das Fenster der Mansarde gezogenen Vorhang einfiel.
»Du hast dich einige Tage nicht gemeldet, Sohn.«
»Entschuldige, Mutter. Ich habe in der letzten Zeit sehr viel zu tun«, sagte er, »aber ich denke immer an dich. Und an dieses Zimmer auch.«
Der altbekannte und doch unbekannte Raum. Auf der Kommode stand das gerahmte Foto seines Vaters in den Vierzigern, mit Kappe und Umhang, ein ernst dreinblickender junger Gelehrter mit einer glänzenden Zukunft. Das Bild leuchtete im Licht. Chens Mutter stand daneben.
Sie hat den Tod ihres Mannes nie verwunden, dachte er, obwohl sie zurechtzukommen schien, jeden Tag auf den Markt ging, sich mit ihren Nachbarinnen unterhielt und jeden Morgen Tai-Chi machte. Mehrmals hatte er versucht, ihr Geld zu geben, aber das hatte sie abgelehnt. Sie bestand darauf, daß er es für sich sparen solle.
»Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte sie, das letzte Wort betonend. »Ich habe viel zu tun. Ich telefoniere fast täglich mit deinem Onkel, und abends sehe ich fern. Seit diesem Monat gibt es noch mehr Sender.«
Nur zwei Dinge hatte sie von ihm angenommen: das Telefon und den Farbfernseher.
Das Telefon gehörte ihm eigentlich nicht. Das Präsidium hatte es ihm gekauft und angeschlossen. Als sein Umzug anstand, hatte er in seiner neuen Wohnung ein anderes Telefon anschließen lassen. Theoretisch hätte Oberinspektor Chen das alte Telefon abmelden müssen, doch hatte er beharrlich geltend gemacht, daß er seine Mutter jeden Tag anrufen müsse. Sie sei über siebzig und lebe allein. Parteisekretär Li hatte dem mit einem Kopfnicken zugestimmt; das war wie ein Scheck über dreitausend Yuan. Der Apparat selbst war nicht besonders teuer, da aber so viele Menschen in Shanghai auf der Warteliste standen, hätte der Anschluß ein kleines Vermögen gekostet, ganz zu schweigen von all den offiziellen Dokumenten, die erforderlich waren, um die Notwendigkeit unter Beweis zu stellen.
Für seine Mutter war das Telefon ein wertvoller Schutz vor der Einsamkeit.
Der Fernseher ebenfalls. Er hatte ihn im Schlußverkauf zum »staatlichen Preis« erstanden, was er sich bei seinem Gehalt leisten konnte. Er war Oberinspektor, nicht einfach irgend jemand, und der Geschäftsführer des Ladens war ein guter Bekannter.
»Möchtest du Tee?« fragte seine Mutter.
»Gern.«
»Kandierte Rotdornfrüchte aus Suzhou dazu?«
Chen nahm seiner Mutter die Teeschalen ab. Befremdet sah er, daß sie eine Jasminblüte aus ihrem Haar nahm und in ihre Tasse legte. Noch nie hatte er gesehen, wie jemand einen auf diese Art zubereiteten Jasmintee trank. Die Blütenblätter schwammen auf dem dunkelgrünen Wasser in der Schale.
»In meinem Alter kann ich mir, glaube ich, ein wenig Luxus gönnen. Die Blüte kostet nur zwanzig Fen.«
»Frischer Jasminblütentee«, sagte er. »Was für eine wunderbare Idee!«
Er war froh, daß sie die Blüte nicht in seinen Tee getan hatte.
Er hatte den Verdacht, daß sie nie aufgehört hatte, sich wegen des Geldes zu sorgen. Ihr Mann war zwar ein berühmter Wissenschaftler gewesen, hatte ihr jedoch außer den Büchern, zu deren Verkauf sie sich nicht durchringen konnte, praktisch nichts hinterlassen. Als Witwe eines berühmten Mannes hielt sie es für unter ihrer Würde, etwas auf der Straße zu verkaufen. Aber ihre Rente reichte kaum für ihre Grundbedürfnisse. Die vielleicht zwei, drei Tage alte Jasminblüte hätte sie ohnehin bald weggeworfen. Sie hatte aus der Not eine Tugend gemacht. Er nahm sich vor, ihr das nächstemal ein halbes Pfund echten Jasmintee mitzubringen. Den berühmten Wolken-und-Nebel-Tee aus den Gelben Bergen.
Sie setzte ihre Tasse ab und lehnte sich im Schaukelstuhl aus Rattan zurück. »Erzähl mir, wie es dir geht«, sagte sie.
»Mir geht es ausgezeichnet«, sagte er.
»Wie steht es mit dem Wichtigsten im Leben?«
Diese Frage kannte er nur zu gut. Sie bezog sich darauf, ob er sich mit einem Mädchen traf, sie heiraten und ein Kind haben würde. Er entgegnete immer, daß er zuviel zu tun habe, was zufällig auch stimmte.
»Im Präsidium geschehen gegenwärtig so viele Dinge, Mutter.«
»Du hast also nicht einmal Zeit, um daran auch nur zu denken. Habe ich recht?« fragte sie. Seine Antwort kannte sie bereits.
Er nickte wie ein gehorsamer Sohn, obwohl Konfuzius gesagt hatte: »Durch drei Dinge wird ein Mann
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