Qiu Xiaolong
ungehorsam gegen die Eltern, und keine Nachkommen zu haben ist der größte Ungehorsam.«
»Was ist mit Wang Feng?«
»Sie wird zu ihrem Mann nach Japan gehen.« Er fügte hinzu: »Und ich helfe ihr gerade, das Visum zu bekommen.«
»Nun«, sagte seine Mutter ohne Enttäuschung in der Stimme, »das ist vielleicht nicht schlecht für dich, mein Sohn. Ehrlich gesagt, ich bin froh darüber. Soweit ich weiß, ist sie verheiratet, zumindest auf dem Papier. Eine Ehe nicht zu zerstören, ist eine edle Tat. Buddha wird dich dafür segnen. Aber seitdem du mit jenem Mädchen in Peking Schluß gemacht hast, scheint Wang die einzige gewesen zu sein, die dich wirklich interessiert hat.«
»Laß uns darüber bitte jetzt nicht reden.«
»Erinnerst du dich noch an Yan Hong, die Moderatorin? Sie ist jetzt eine wirkliche Berühmtheit beim Fernsehsender Oriental. Alle sagen, wie wundervoll sie ist. Eine goldene Stimme und auch ein goldenes Herz. Letzte Woche bin ich ihr im Kaufhaus Nr. 1 begegnet. Sie hat dich abends immer angerufen – ich habe ihre Stimme erkannt –, aber du hast sie nie zurückgerufen. Jetzt ist sie glückliche Mutter eines niedlichen Sohnes, aber sie nannte mich immer noch ›Tante‹.«
»Unsere Beziehung war rein beruflicher Natur.«
»Hör auf«, sagte sie und roch an der Jasminblüte in ihrem Tee. »Du lebst zurückgezogen wie eine Schildkröte in ihrem Panzer.«
»Ich wünschte, ich hätte einen Panzer. Der würde mich vielleicht schützen. In den letzten vierzehn Tagen habe ich sehr viel um die Ohren gehabt. Heute ist der erste Tag, an dem ich mich ein paar Stunden freimachen kann«, sagte er, in dem Versuch, das Thema zu wechseln. »Also bin ich hierhergekommen.«
»Mach dir um mich keine Sorgen«, sagte sie, »und lenk nicht vom Thema ab. Bei deinem gegenwärtigen Gehalt und deiner Stellung sollte es dir nicht allzuschwer fallen, jemanden zu finden.«
»Ich verspreche dir, Mutter«, sagte er, »für dich bald eine wunderbare Schwiegertochter zu finden.«
»Nicht für mich, für dich.«
»Ja, du hast recht.«
»Ich hoffe, du hast Zeit, mit mir zu Abend zu essen?«
»Nur wenn du nichts Besonderes für mich machst.«
»Nein, das tue ich nicht.« Sie stand auf. »Ich muß nur ein paar Reste aufwärmen.«
Das konnten nicht sehr viele Reste sein, mutmaßte er, als er in den kleinen Speiseschrank aus Bambus an der Wand sah. Sie konnte sich keinen Kühlschrank leisten.
In dem Schränkchen befand sich nur ein kleiner Teller mit eingelegtem Kohl, ein Glas Tofu und ein halber Teller mit Bohnensprossen. Aber nach einer Woche mit exotischen Delikatessen in Ouyangs Gesellschaft schmeckte eine Schale mit wäßrigem Reisbrei und eingelegtem Kohl auch gut.
»Mach dir keine Sorgen, Mutter«, sagte er und mixte etwas Tofu unter den Reisbrei. »Im Oktober nehme ich an einem Seminar des Zentralen Parteiinstituts teil, und danach werde ich mehr Zeit für mich haben.«
»Wirst du dein ganzes Leben lang Polizist bleiben?« fragte sie.
Verblüfft starrte er sie an. Auf diese Frage war er überhaupt nicht gefaßt. Jedenfalls nicht heute abend. Er war bestürzt über die Bitterkeit, die darin lag. Er wußte, daß seine Berufswahl sie nicht begeistert hatte. Sie hatte gehofft, daß ihr Sohn wie sein Vater Wissenschaftler werden würde. Aber er hatte es sich nicht ausgesucht, Polizeibeamter zu werden. Es überraschte ihn, daß sie das Thema jetzt aufbrachte, wo er Oberinspektor geworden war.
»Es geht mir wirklich gut«, sagte er und tätschelte die schmale Hand mit den hervorstehenden Adern. »Ich habe jetzt mein eigenes Büro und sehr viel Verantwortung.«
»Dann wirst du also diesen Beruf dein Leben lang ausüben.«
»Nun, das weiß ich nicht.« Nach einer Pause fügte er hinzu:
»Ich habe mir dieselbe Frage gestellt, aber ich bin noch zu keinem Ergebnis gekommen.«
Das wenigstens stimmte. Gelegentlich fragte er sich, was aus ihm geworden wäre, wenn er sein Literaturstudium fortgesetzt hätte. Vielleicht wäre er Assistent oder außerordentlicher Professor an einer Universität, an der er lehren, aber auch schreiben würde, und davon hatte er einst geträumt. Das Leben war für die meisten Menschen nicht leicht, besonders während des Übergangs Chinas vom Sozialismus zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Möglicherweise gab es viele Dinge, die wichtiger oder zumindest unmittelbar notwendiger waren als moderne und postmoderne Literaturkritik.
»Du bist in der Parteipolitik recht erfolgreich«,
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