Qiu Xiaolong
wahrscheinlich.« Nach einer Pause setzte er hinzu: »Es tut mir leid, daß ich dich da hineinziehe.«
»Du mußt dich nicht entschuldigen, Guangming«, erwiderte sie. »Wenn es dir hilft, hilft es mir auch.«
31
ES WAR DER dritte Tag, an dem Chen als Reiseführer der amerikanischen Schriftstellerdelegation fungierte.
Die Besucher waren mit einem Austauschprogramm gekommen, das von der chinesisch-amerikanischen Wissenschaftskommission finanziert wurde. William Rosenthal, der bekannte Professor, Literaturkritiker und Lyriker, wurde von seiner Frau Vicky begleitet. Rosenthals Position als Vorsitzender des amerikanischen Schriftstellerverbandes verlieh dem Besuch der Delegation zusätzliche Bedeutung. Shanghai war die letzte Station auf ihrer Reise.
Im Hotel Jinjiang erhielt Chen ein Zimmer auf demselben Flur wie die Rosenthals. Die amerikanischen Gäste wohnten in einer Luxussuite. Chens Zimmer war viel kleiner, aber immer noch elegant – kein Vergleich mit dem Schriftstellerhaus in Guangzhou. Dann begleitete er die amerikanischen Gäste in die Boutique des Hotels im Parterre, wo sie Souvenirs kauften.
»Es freut mich sehr, mit jemandem wie Ihnen sprechen zu können! Das ist doch der Sinn unseres kulturellen Austauschprogramms. – Vicky, Mr. Chen hat T. S. Eliot ins Chinesische übersetzt«, sagte Rosenthal, zu seiner Frau gewandt, die gerade damit beschäftigt war, eine Perlenkette zu mustern. »Sogar The Waste Land.« Anscheinend kannte Rosenthal Chens literarischen Hintergrund, wußte aber weder etwas von seinen Krimiübersetzungen noch von seinem Posten bei der Polizei.
»In Peking und Xi’an haben die Dolmetscher auch gut Englisch gesprochen«, sagte Vicky, »aber von Literatur hatten sie wenig Ahnung. Sobald Bill irgend etwas zitierte, waren sie bloß peinlich berührt.«
»Ich lerne eine Menge von Professor Rosenthal«, erwiderte Chen und zog das Besuchsprogramm aus der Tasche. »Aber ich fürchte, wir müssen jetzt gehen.«
Das Programm war dichtgedrängt. Schon Tage vor der Ankunft der Gruppe waren die Programmpunkte im einzelnen festgelegt und an das Büro für Auslandskontakte des Shanghaier Schriftstellerverbandes gefaxt worden. Chens Aufgabe war es, den Instruktionen zu folgen. Am Vormittag Besichtigung des Stadtgott-Tempels, dann Mittagessen mit Shanghaier Schriftstellern, am Nachmittag Schiffsausflug auf dem Huangpu, danach Einkaufsbummel in der Nanjing Lu und am Abend eine Peking-Oper… Einige Örtlichkeiten, deren Besichtigung aus politischen Gründen unerläßlich war, hatten sie schon absolviert, zum Beispiel das Backsteingebäude, in dem angeblich die Kommunistische Partei Chinas ihre erste Versammlung abgehalten hatte, die wohlerhaltenen Reste des Fangua-Slums aus der nationalistischen Ära, als Kontrast zu der neuen, unter dem Kommunismus errichteten Parteizentrale, und das Neubaugebiet östlich des Huangpu.
»Wohin geht es denn jetzt?«
»Gemäß dem Besuchsprogramm für den Vormittag zum Stadtgott-Tempel.«
»In einen Tempel?« fragte Mrs. Rosenthal.
»Nicht direkt. Es ist ein Markt um einen Tempel herum«, erläuterte Chen. »Manche Leute sagen deswegen auch Markt des Stadtgott-Tempels. In ein paar Läden – und im Tempel selbst – wird örtliches Kunsthandwerk verkauft.«
»Ist ja toll!«
Wie gewöhnlich war der Markt voller Menschen. Die Rosenthals interessierten sich weder für den frisch hergerichteten Tempel mit den roten Säulen und dem hohen schwarzen Tor noch für die in seinem Inneren feilgebotenen kunstgewerblichen Gegenstände, ja nicht einmal für den dahintergelegenen Yu-Garten mit seinen glasierten gelben Drachen an den weißen Mauern. Mehr als alles andere beeindruckte die Amerikaner der Anblick diverser Imbißbuden.
»Die Kochkunst muß stets ein wesentlicher Bestandteil der chinesischen Kultur gewesen sein«, bemerkte Rosenthal, »sonst würde es nicht so viele verschiedene lokale Küchen geben.«
»Und so viele verschiedene Menschen«, setzte seine Frau fröhlich hinzu, »die sich nach Herzenslust satt essen.«
Laut Besuchsprogramm des Büros für Auslandskontakte waren als vormittäglicher Imbiß Coca-Cola und Eiskrem vorgesehen. Jeder Programmpunkt, die Örtlichkeit und die Preiskategorie waren auf der Liste ausgedruckt. Chen würde seine Auslagen später, nach Vorlage der Quittungen, zurückerstattet bekommen.
Vor der Bar zum Gelben Drachen, blieben die Rosenthals stehen. Hinter der Scheibe sah man, wie eine Kellnerin eine gebratene Ente
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