Qiu Xiaolong
gewiß keine große Freude aufgekommen. Sie würden auf den Interessen der Partei herumreiten und ihm den Fall wegnehmen. Im schlimmsten Fall würden sie ihn offiziell seiner Position entheben.
Aber Chen war entschlossen, nicht zurückzuweichen, und wenn er darüber seiner Stellung und seine Parteimitgliedschaft verlor.
Die erste Lektion im Parteischulungsprogramm hatte gelautet: Ein Parteimitglied muß vor allen Dingen den Interessen der Partei dienen.
Da lag das Problem. Denn was waren die Interessen der Partei?
So hatte der Vorsitzende Mao Anfang der fünfziger Jahre die chinesischen Intellektuellen eingeladen, die Partei zu kritisieren. Das sei »im Interesse der Partei«, hatte Mao gesagt. Als aber diese Aufforderung von einigen wörtlich genommen wurde, bekam Mao einen Tobsuchtsanfall und nannte seine naiven Kritikaster »antisozialistische Rechtsabweichler« und warf sie ins Gefängnis. Was natürlich ebenfalls im Interesse der Partei geschah, wie die Parteizeitungen erklärten; sie rechtfertigten Maos ursprüngliche Rede als taktisches Manöver zu dem Zweck, »die Schlange aus der Höhle zu locken«. Genauso ging es mit vielen politischen Bewegungen, auch mit der Kulturrevolution. Alles, alles geschah im Interesse der Partei. Nach Maos Tod wurden diese katastrophalen Bewegungen als Maos »Fehler aus bester Absicht« abgeschrieben, die nicht über das ruhmreiche Verdienst der Partei hinwegtäuschen dürften; und das chinesische Volk wurde wieder einmal ermahnt, die Vergangenheit im Interesse der Partei zu vergessen.
Chen war sich bewußt gewesen, daß zwischen seiner Rolle als Oberinspektor und seiner Rolle als Parteimitglied ein Unterschied bestand; aber an die Möglichkeit, daß diese zwei Rollen einmal miteinander in direkten Konflikt geraten könnten, hätte er nie gedacht. Und jetzt saß er hier und wartete auf die Lösung ebendieses Konflikts.
Es gab kein Zurück mehr. Im schlimmsten Fall war Oberinspektor Chen bereit, den Dienst zu quittieren und im Restaurant des Überseechinesen Lu mitzuarbeiten. Dasselbe hatte schon Sima Xiangru in der Westlichen Han-Dynastie getan: Er hatte eine kleine Schenke eröffnet, kurze Hosen getragen, geschwitzt und aus einem riesigen Gefäß Wein geschöpft; und Wenjun war ihm gefolgt, hatte den Gästen den Wein kredenzt und dazu wie eine Lotosblüte im Morgenwind gelächelt, während ihre zierlichen Augenbrauen an ein fernes Gebirge erinnerten. Die Einzelheiten entsprangen natürlich der romantischen Phantasie eines Ge Hong in den Skizzen aus der Westlichen Hauptstadt. Aber es wäre ehrliche Arbeit, bei einem unbeschwerten Gewissen. Sich sein Brot verdienen wie alle anderen, mochte er nun eine Wenjun an seiner Seite haben oder nicht – vielleicht ein Russenmädchen im chinesischen Qipao, seitlich geschlitzt, wie es Mode war, um die weißen Schenkel zu entblößen, und mit roten Haaren, die von den grauen Wänden abstachen.
Chen mußte sich selbst zur Ordnung rufen – es war absurd, sich in solchen Tagträumen zu verlieren, während er in Konferenzsaal Nr. 1 saß und der großen Auseinandersetzung harrte.
Dann hörte er Schritte. Zwei Männer standen in der Türöffnung, Parteisekretär Li und Polizeipräsident Zhao.
Chen erhob sich. Zu seiner Überraschung folgten den beiden mehrere andere Menschen in den Raum: Hauptwachtmeister Yu, Kommissar Zhang, Dr. Xia und andere wichtige Mitglieder des Polizeipräsidiums.
Yu suchte sich einen Platz neben Chen; er sah ratlos drein. Es war das erstemal seit Chens Rückkehr aus Guangzhou, daß die beiden wieder zusammen waren.
Yu sagte nur: »Ich wurde gestern abend zurückbeordert«, und schüttelte Chen die Hand.
Diese um das Präsidium erweiterte Sitzung des Parteikomitees war ungewöhnlich, denn der Hauptwachtmeister gehörte eigentlich nicht zum entsprechenden Personenkreis, und Dr. Xia war nicht einmal Parteimitglied.
Am Kopfende des langen Tisches postiert, verlas Parteisekretär Li zunächst einige lange Zitate aus dem neuesten, »in Rot verfaßten« Dokument des Zentralkomitees der Partei. Es ging um die Kampagne gegen den Einfluß der bürgerlich-dekadenten westlichen Ideologie. Dann kam er zu den jüngsten Aktivitäten des Präsidiums:
»Wie Sie vielleicht erfahren haben, ist in dem von Oberinspektor Chen bearbeiteten Fall ein enormer Durchbruch erzielt worden. Es ist ein Fall, der die neuen Kampagne unserer Partei nur um so dringlicher erscheinen läßt. Trotz aller großen wirtschaftlichen Errungenschaften
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