Qiu Xiaolong
unter die Nase, »liegt direkt beim Zentralkomitee der Partei.«
»Dann«, stammelte Guo und starrte den Umschlag an, »ist das also eine Entscheidung auf höchster Ebene?«
»Allerdings, auf höchster Ebene. Hören Sie, Sie sind doch ein kluger Mann. Wu muß etwas über seine Machenschaften gegen mich fallengelassen haben. Aber was ist das Resultat? Ich bin noch immer Oberinspektor und außerdem zum Direktor des Verkehrskontrollamtes aufgestiegen. Und warum? Denken Sie mal darüber nach.«
»Es ist etwas gegen die alten Kader im Busch?«
»Das ist Ihre Interpretation«, sagte Chen. »Aber wenn Sie glauben, daß Wu Ihnen helfen wird, sind Sie völlig auf dem Holzweg. Wu wäre froh und glücklich, wenn er einen Sündenbock hätte.«
»Sind Sie sicher, daß Sie eine Strafmilderung für mich erwirken können?«
»Ich werde mein Bestes tun. Aber dazu müssen Sie mir alles erzählen, was Sie wissen.«
»Lassen Sie mich überlegen …« Guo hob den Blick von dem Umschlag und sah Chen ins Gesicht. Dabei sank er noch mehr in sich zusammen, so daß sein Buckel stärker hervortrat. »Wo soll ich anfangen?«
»Wie haben Sie von der Beziehung zwischen Wu und Guan Hongying erfahren?«
»Ich habe zuerst Guan kennengelernt – als eines von diesen Partymädchen. Von denen gab es viele. Sie kamen aus eigenem Antrieb auf Wus Partys. Sie wollten Spaß haben, trinken, Karaoke und was auch immer. Einige wollten Wu kennenlernen, andere wollten sich die Villa ansehen, wieder andere wollten fotografiert werden. Sie haben doch die Bilder gesehen, oder?«
»Ja, alle. Sie war also genauso wie diese anderen Partymädchen?«
»Also, zuerst hatte ich keine Ahnung, daß das die nationale Modellarbeiterin war! Bei diesen Partys wurde man einander nicht offiziell vorgestellt. Nur in einem war sie anders als die anderen, das ist mir aufgefallen. Sie wirkte unglaublich steif, als ich mit ihr tanzen wollte.«
»Hatte Wu Ihnen irgend etwas über sie erzählt?«
»Nein, nicht gleich zu Anfang. Aber man konnte merken, daß sie anders war. Sie nahm das Ganze ernst – nicht so wie die anderen Mädchen.«
»Ernst – was meinen Sie damit?«
»Das Verhältnis mit Wu. Die meisten Mädchen wollten nur Spaß haben. Ein Abenteuer für eine Nacht. Manche von denen sind viel freizügiger, als Sie sich vorstellen können. Sie drängen sich einem richtig auf. ohne daß man sie lange bitten muß. Guan war da anders.«
»Guan versprach sich also etwas Ernsthaftes von der Affäre – aber war ihr denn nicht bewußt, daß Wu verheiratet war?«
»Natürlich war ihr das klar, aber sie glaubte, Wu würde sich ihretwegen scheiden lassen.«
»Eine nationale Modellarbeiterin, die einem verheirateten Mann nachstellt – wie konnte sie glauben, daß sie damit Erfolg haben würde?«
»Keine Ahnung.«
»Aber woher wußten Sie denn von Guans Wunsch, daß Wu sie heiraten sollte?«
»Es war so offensichtlich. Die ganze Art, wie sie sich als tugendhafte Gattin gab, nur an Wu klebte und ansonsten ihre unantastbare Keuschheit zur Schau trug.«
»Hat Wu sie wie eines dieser anderen Mädchen behandelt?«
»Nein, Wu war auch anders mit ihr.«
»Können Sie das etwas genauer ausdrücken?« sagte Chen und reichte Guo eine Tasse Tee, nachdem er sich selbst eine zweite zubereitet hatte.
»Erstens mochte Guan diese Partys nicht. Insgesamt war sie auch nur drei- oder viermal dabei und zog sich nach ein oder zwei Tänzen gleich in Wus Zimmer zurück. Wu blieb dann bei ihr und ließ sich nicht mehr sehen, auch wenn draußen die Party tobte. Das war völlig untypisch für ihn.«
»Allein mit einem Mädchen in seinem Zimmer zu bleiben war sogar sehr typisch für Wu, würde ich sagen!«
»Nein, das meine ich nicht. Wu blieb sonst mit einem Mädchen nach der Party in seinem Zimmer, aber nicht während der Party. Zu Guan verhielt sich Wu sehr rücksichtsvoll. Er gab sich alle Mühe, sie bei Laune zu halten. Letztes Jahr machten sie sogar zusammen eine Reise, ich glaube in die Gelben Berge. Das war auch so eine Idee von Guan.«
»Sie gaben sich als Ehepaar aus und teilten ein Zimmer«, sagte Chen. »Ich fürchte, das war nicht nur Guans Idee.«
»Ich weiß nicht. Sie hätten diese Schauspielerinnen sehen sollen! Jede von denen war schöner und jünger als Guan. Aber Wu hat mit keiner von ihnen eine Reise gemacht, nur mit Guan.«
»Hm«, nickte Chen. »Aber was ist dann zwischen den beiden geschehen?«
»Wu hat gemerkt, daß es ihr absolut ernst war und daß sie zuviel
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