Qiu Xiaolong
Zentralkomitee der Partei hat schon eine politische Kampagne auf den Weg gebracht.«
»Letzten Endes also doch ein politischer Fall!«
»Ja. Parteisekretär Li hatte recht. Er hat es von Anfang an gesagt.« Yu versuchte gar nicht erst, die Bitterkeit in seiner Stimme zu unterdrücken. »Wirklich hervorragende Arbeit, die wir geleistet haben.«
Chen ging nach unten. In der Empfangshalle sah er Ling wieder.
Einige Mitglieder der amerikanischen Delegation hatten sich an der Rezeption versammelt, um eine Suzhou-Seidenstickerei der Chinesischen Mauer zu bewundern. Ling dolmetschte. Zuerst bemerkte sie Chen gar nicht. Im Morgenlicht wirkte sie blaß, mit dunklen Ringen unter den Augen. Er wußte nicht, wann sie sein Zimmer verlassen hatte.
Sie trug einen rosenfarbenen Qipao, dessen Seitenschlitze ihre schlanken Beine sehen ließen. Über die Schulter hing ihr eine kleine, strohgeflochtene Handtasche, in der Hand hielt sie eine Aktentasche aus Bambus. Eine Orientalin unter lauter Langnasen. Sie war dabei, mit der amerikanischen Delegation das Hotel zu verlassen.
Wie er sie so im hereinflutenden Morgenlicht ansah, erfaßte ihn unendliche Dankbarkeit.
Sie machte sich nicht gleich von ihrer Gruppe los. Als sie endlich allein war, fragte er: »Wirst du mich anrufen, wenn du wieder in Peking bist?«
»Natürlich.« Und nach einer Pause setzte sie hinzu: »Wenn es dir überhaupt recht ist.«
»Wie kannst du das fragen! Du hast so viel für mich getan …«
»Hör auf. Du bist zu nichts verpflichtet.«
»Dann sehen wir uns in Peking«, versprach er. »Im Oktober. Vielleicht schon früher.«
»Erinnerst du dich noch an das Gedicht, das du an jenem Nachmittag im Beihai-Park für mich rezitiert hast?«
»An jenem Nachmittag – ja.«
»Also sind es nur ein paar Monate.«
Eine kleinwüchsige Amerikanerin kam leicht hinkend auf sie zu.
»Haben wir alles erledigt, was wir hier wollten?«
»Ja. Ich habe alles erledigt, was ich hier wollte«, sagte Ling und sah Chen noch einmal an, bevor sie sich umdrehte und wieder zu ihrer Delegation ging.
Draußen war ein heller, strahlender Morgen. Ein grauer Kleinbus stand an der Nanjing Lu und wartete auf die Delegation. Ling war die letzte, die einstieg, in der Hand einen Lederkoffer, den sie für irgend jemanden schleppte. Als der Bus anfuhr, kurbelte sie das Fenster herunter und winkte zu Chen hinüber.
Er sah dem Bus nach, bis er in den Verkehr eingetaucht war.
Ich habe alles erledig, was ich hier wollte. Das waren ihre Worte gewesen.
Er wünschte, er hätte dasselbe von sich sagen können.
Es war geschehen. Vielleicht würde es niemals mehr geschehen. Er wußte es nicht. Er wußte nur dies: daß man nicht zweimal in denselben Fluß stieg.
Aber jetzt mußte er sich beeilen, wieder ins Hotel zu kommen. Einige Konferenzteilnehmer waren schon im Aufbruch begriffen. Als Gastgeber mußte er sie verabschieden und im Namen des Shanghaier Polizeipräsidiums mit diversen Geschenken beglücken. Lächelnd und händeschüttelnd durchschaute er endlich, daß seine Gastgeberrolle im Hotel International nur den Zweck gehabt hatte, ihn für eine Weile aus dem Weg zu schaffen.
Die Akte des Stückes folgen einander nach schlauem Plan, / Den letzten Vorhang vermag nichts aufzuhalten.
Gegen Mittag hatte er Gelegenheit, zum Zeitungsstand in der Empfangshalle hinunterzugehen. Mehrere Leute hatten sich davor versammelt, die, einander über die Schultern schauend, die Zeitung lasen. Schon beim Näherkommen sah er die rot gedruckte Schlagzeile:
K ORRUPTION UND V ERBRECHEN UNTER WESTLICH - BÜRGERLICHEM E INFLUSS
Der Leitartikel in der Volkszeitung über den Fall Wu füllte eine ganze Seite.
Am absurdesten fand Chen, daß nicht ein einziges Mal der Name Guan Hongying vorkam. Sie rangierte einfach unter den ungenannten Opfern. Der Mord wurde als die zwangsläufige Folge eines schädlichen, westlich-bürgerlichen Einflusses behandelt. Auch der Name von Oberinspektor Chen blieb unerwähnt – wahrscheinlich in gutgemeinter Absicht, wie Parteisekretär Li erläutert hatte. Dafür wurde Kommissar Zhang als Vertreter der alten hohen Kader zitiert, die die Ermittlungen entschlossen durchgeführt hatten. Zhangs Engagement wurde als Entschlossenheit der Partei gewertet.
Der Leitartikel schloß eindrucksvoll und autoritativ: Wu Xiaoming entstammte einer Familie hoher Kader, doch unter westlich-bürgerlichem Einfluß wurde er zum Verbrecher. Die Lehre liegt auf der Hand. Wir müssen immer wachsam
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