Qiu Xiaolong
aufgerichtet. Im Nu lagen die zwei auf dem Bett, hingegeben an den Schmerz ihrer Trennungszeit, die langen, vergeudeten Jahre. Es trieb sie zur Hast; beide waren ergriffen von einer Art Verzweiflung. Sie konnten ihre Vergangenheit nur retten, wenn sie jetzt und hier ganz sie selbst waren.
Ling stöhnte, die Arme um Chens Hals und die Beine um seinen Rücken geschlungen. Sie zuckte und wölbte sich unter ihm, ließ ihre Finger, lang und stark, seinen Rücken hinabgleiten. Die Heftigkeit ihrer Erregung steckte ihn an. Nach einer Weile wechselte sie die Stellung und lag jetzt auf ihm. Ihr langes Haar stürzte in Kaskaden auf sein Gesicht; sie weckte Empfindungen in ihm, die er nie gekannt hatte. Er verlor sich in diesem Haar. Sie erschauderte, als sie kam, keuchte kurz und rasch atmend. Auf einmal wurde ihr Körper weich und fließend – gestaltlos wie die Wolke nach dem Schauer.
Dann lagen sie einander still in den Armen, fühlten sich weit hinausgehoben über die Stadt Shanghai.
Vielleicht weil das Hotel so hoch war, jedenfalls schien es Chen auf einmal, als drängten die weißen Wolken durch das Fenster, drängten sich im weichen Licht des Mondes gegen Lings schweißnassen Körper.
»Wolken und Regen«, sagte er, die alte Metapher für den Beischlaf zitierend.
Ling flüsterte eine heisere Zustimmung, bewegte den Kopf auf seiner Brust und blickte zu ihm auf.
Ihre Füße berührten sich. Chen strich leise über ihre gewölbte Fußsohle und ertastete ein Sandkorn zwischen ihren Zehen. Sand aus Shanghai – nicht aus der Verbotenen Stadt.
Ihre Zweisamkeit unterbrachen Schritte, die den Gang entlangkamen. Chen hörte jemanden vom Hotelpersonal einen Schlüsselbund hervorziehen. Ein Schlüssel drehte sich einmal – nur einmal – in einem Türschloß gegenüber ihrem Zimmer. Die ängstliche Spannung steigerte ihre Empfindungen nur noch. Ling kuschelte sich wieder an ihn. Jetzt lag auf ihren Zügen ein Ausdruck, den er noch nie an ihr gesehen hatte. Etwas ganz Klares und Heiteres. Der herbstliche Nachthimmel von Peking, durch den der Kuhhirt und die Weberin einander Blicke zuwerfen, eine Brücke über die Milchstraße, gebaut aus schwarzen Elstern.
Sie umarmten sich wieder.
Danach sagte sie ruhig: »Es war das Warten wert«, und schlief neben ihm ein.
Chen setzte sich auf, nahm einen Block vom Nachttisch und begann zu schreiben.
Es war ihm, als lasse eine höhere Macht die Zeilen herabströmen, und er sei nur zufällig zur Stelle, um sie mit der Feder in der Hand zu empfangen …
Er wußte später nicht mehr, wann er eingeschlafen war.
Das Läuten des Telefons auf dem Nachttisch ließ ihn hochschrecken.
Als er sich augenzwinkernd aus seinem Traum aufrichtete, merkte er, daß Ling nicht mehr bei ihm war. Die weißen Kissen waren gegen das Kopfende des Bettes gedrückt, noch weich und wolkig im ersten Morgenlicht.
Das Telefon läutete noch immer. Schrill und scharf zu dieser frühen Stunde, ein böses Vorzeichen. Er hob ab.
»Oberinspektor Chen, es ist alles vorbei.« Yu klang irgendwie gereizt, so als habe auch er zuwenig geschlafen.
»Was meinen Sie mit ›alles vorbei‹?«
»Die ganze Sache. Der Prozeß ist zu Ende. Wu Xiaoming wurde zum Tode verurteilt. Er wurde in allen Anklagepunkten für schuldig befunden und heute nacht hingerichtet. Vor rund sechs Stunden. Schluß, aus.«
Chen sah auf die Uhr. Es war kurz nach sechs.
»Wu hat keine Berufung eingelegt?«
»Es war ein besonderer Fall. So haben es die Parteibehörden jedenfalls hingestellt. Eine Berufung wäre völlig zwecklos gewesen, und Wu war sich darüber im klaren. Und sein Verteidiger auch. Es war ein offenes Geheimnis.«
»Und heute nacht wurde er hingerichtet?«
»Ja, ein paar Stunden nach dem Prozeß. Aber fragen Sie mich nicht, warum, Genosse Oberinspektor!«
»Und was ist mit Guo Ojang?«
»Der wurde auch hingerichtet. Zur selben Zeit und an derselben Richtstätte.«
»Was?!« Chen war entsetzt. »Aber Guo hatte doch keinen Mord begangen!«
»Wissen Sie, was der Hauptanklagepunkt gegen Wu und Guo war?«
»Nein, was denn?«
»Verbrechen und Korruption unter westlich-bürgerlichem Einfluß.«
»Könnten Sie sich vielleicht etwas genauer ausdrücken, Yu?«
»Natürlich. Aber Sie können den ganzen Kokolores auch in den Zeitungen lesen. Ich wette, mit roten Schlagzeilen. Jetzt ist der Fall Bestandteil einer nationalen Kampagne gegen ›KKB‹ –»Korruption und Kriminalität unter westlich-bürgerlichem Einfluß‹. Das
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