Qiu Xiaolong
war Wangs spöttische Stimme. »Wie schon ein altes chinesisches Sprichwort sagt: Ein wichtiger Mann hat ein schlechtes Gedächtnis.«
»Ach nein, sagen Sie so was nicht!«
»Sie haben wohl so viel zu tun, daß Sie Ihre Freunde vergessen.«
»Stimmt, ich habe schrecklich viel zu tun, aber wie könnte ich Sie vergessen? Nein, ich muß nur soviel Routinekram erledigen, und dann noch der neue Fall – Sie wissen schon, der von neulich, an meinem Einweihungsfest. Entschuldigung, daß ich Sie noch nicht angerufen habe.«
»Sagen Sie nie ›Es tut mir leid‹ –« Sie wechselte das Thema, ohne den Satz zu beenden. »Aber ich habe gute Nachrichten für Sie.«
»Ach ja?«
»Zum einen steht Ihr Name auf der Liste des vierzehnten Seminars, das das Zentralinstitut der Partei in Peking veranstalten wird.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich hab da so meine Verbindungen. Also werden wir anläßlich Ihrer neuerlichen Beförderung bald noch ein Fest feiern müssen.«
»Dafür ist es noch zu früh. Aber wie wär’s, wenn wir nächste Woche zusammen zum Mittagessen gingen?«
»Das klingt ja, als ob ich mich von Ihnen zum Essen einladen lassen würde. Und ich habe gleich noch eine gute Nachricht für einen Oberinspektor mit poetischer Ader. Xu Baoping, unser Feuilletonchef, hat beschlossen, eines Ihrer Gedicht zu drucken, ich glaube, es heißt ›Wunder‹.«
»Ja, ›Wunder‹ – das ist ja toll!«
Das war tatsächlich eine aufregende Neuigkeit. Ein Gedicht in der landesweit einflußreichen Wenhui-Zeitung konnte weitaus mehr Leser erreichen als ein Gedicht in einer kleinen Zeitschrift. »Wunder« handelte von einer engagierten Polizistin. Der Redakteur hatte es vielleicht aus politischen Erwägungen gewählt, aber dennoch freute sich Chen sehr. »Nur wenige Mitglieder des Shanghaier Schriftstellerverbands wissen, daß ich hauptberuflich Polizist bin. Es bringt auch nichts, mit ihnen darüber zu reden. Sie würden wahrscheinlich nur sagen: Was soll das, ein Mann, der Mörder fängt, versucht auch noch, die Musen zu erhaschen?«
»Das wundert mich nicht.«
»Danke, daß Sie ehrlich mit mir sind«, sagte er. »Ich bin mir einfach noch nicht im klaren über meine wirkliche Berufung.«
Oberinspektor Chen versuchte, sein dichterisches Talent nicht zu überschätzen, obwohl Kritiker in seiner Arbeit eine Verbindung zwischen klassischer chinesischer und moderner westlicher Empfindsamkeit zu entdecken glaubten. Gelegentlich fragte er sich, wie gut er als Dichter wohl hätte werden können, wenn er in der Lage gewesen wäre, sieh voll und ganz auf das Schreiben zu konzentrieren. Doch dies war nur eine verlockende Phantasie. In den letzten paar Wochen hatte er tagsüber so viel arbeiten müssen, daß er abends zum Schreiben einfach zu müde gewesen war.
»Nein, bitte verstehen Sie mich nicht falsch! Ich glaube an Ihre poetische Begabung. Deshalb habe ich Xu ja ›Wunder‹ vorgelegt – Der Regen bat dein schulterlanges Haar grüngespült – Tut mir leid, aber das ist so ziemlich die einzige Zeile, an die ich mich erinnere. Allerdings denke ich dabei eher an eine Nixe aus einem Zeichentrickfilm als an eine Shanghaier Polizistin.«
»Meine poetische Ader – aber jetzt verrate ich Ihnen ein Geheimnis: Ich habe Sie in mehrere Gedichte einfließen lassen.«
»Wie bitte? Sie sind echt unmöglich!« sagte sie. »Sie geben nie auf, nicht wahr?«
»Sie meinen, meine Hände in Unschuld zu waschen?«
»Wenn ich mich recht erinnere«, sagte sie lachend, »haben Sie sich neulich vor dem Essen in Ihrer neuen Wohnung die Hände nicht gewaschen.«
»Ein weiterer Grund, Sie zum Essen einzuladen«, erwiderte er, »um Ihnen meine Unschuld zu beweisen.«
»Sie sind einfach immer – in aller Unschuld – zu beschäftigt.«
»Aber ich werde nie zu beschäftigt sein, um mit Ihnen zum Essen zu gehen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Für Sie gibt es doch nichts Wichtigeres als Ihre Fälle, nicht einmal sich mit mir herumzutreiben ist Ihnen wichtiger.«
»Ach, jetzt übertreiben Sie aber.«
»Gut, dann sehen wir uns also nächste Woche.«
Er freute sich über ihren Anruf. Offenbar hatte auch sie an ihn gedacht. Warum wäre ihr sonst die Neuigkeit mit dem Seminar wichtig gewesen? Sie schien es ziemlich spannend zu finden. Und was das Gedicht betraf, hatte sie ja vielleicht sogar ein Wort für ihn eingelegt.
Außerdem genoß er den geistreichen Gedankenaustausch mit ihr. Selbst wenn die Gespräche ganz beiläufig erschienen, waren sie
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