Qiu Xiaolong
unter der Oberfläche doch recht intim.
Es stimmte, daß er schrecklich viel zu tun gehabt hatte. Parteisekretär Li hatte ihm mehrere Themen vorgeschlagen, die er auf dem Seminar des Zentralinstituts der Partei vortragen könnte. Er mußte diese Themen in den nächsten paar Tagen bearbeiten, denn der Parteisekretär wollte sie noch jemandem in Peking zur Durchsicht vorlegen. Li zufolge waren die obersten Parteifunktionäre einschließlich des ehemaligen Generalsekretärs des Zentralkomitees der Partei zu dem Seminar eingeladen. Ein guter Vortrag würde die Aufmerksamkeit der höchsten Ebenen erregen. Deshalb hatte Oberinspektor Chen einen Großteil der Arbeit, die in seiner Abteilung anfiel, dem Hauptwachtmeister Yu überlassen müssen.
Doch Wangs Anruf ließ ihn wieder an die Tote denken. Bislang waren sie in diesem Fall kaum weitergekommen; sie hatten die junge Frau noch nicht einmal identifizieren können, sosehr sie sich auch darum bemüht hatten. Er beschloß, sich noch einmal mit Yu darüber zu unterhalten.
»Ja, das ist jetzt vier Tage her«, sagte Yu. »Wir haben noch keine Fortschritte erzielt. Es gibt keine Spuren, keine Verdächtigen, keine Theorie.«
»Und die Vermißtenmeldungen?«
»Keine, auf die ihre Beschreibung passen könnte.«
»Das letzte Mal schlossen Sie die Möglichkeit aus, daß sie hier aus der Umgebung stammt. Vielleicht war sie eines der vielen Mädchen vom Land, die nach Shanghai strömen?« fragte Chen. »Da solche Mädchen hier keine Verwandten haben, wird es ziemlich lange dauern, bis man sie als vermißt meldet.«
Weil überall gebaut wurde und täglich neue Firmen entstanden, bildeten die sogenannten »Provinzler« eine billige mobile Arbeiterreserve. Häufig waren es junge Mädchen, die in die Stadt kamen, um in den neuen Restaurants oder Hotels Arbeit zu finden.
»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Yu. »Aber haben Sie ihre Fingernägel gesehen? Sie waren professionell gepflegt und lackiert. Und ihre Zehennägel ebenso.«
»Vielleicht hat sie ja in einem dieser Nobelhotels gearbeitet.«
»Dazu kann ich nur folgendes bemerken, Genosse Oberinspektor: Letzten Monat sah ich ein Gemälde von Cheng Shifa«, sagte Yu und schüttelte den Kopf. »Es zeigte ein Dai-Mädchen auf einem steinigen Gebirgspfad in Yunnan; ihre bloßen Füße schimmerten weiß unter ihrem langen grünen Rock hervor. Einer meiner Kollegen in Yunnan hat ein Dai-Mädchen geheiratet. Er erzählte mir einmal, wie schockiert er war, als er sah, wie verhornt und zerschunden ihre Füße waren.«
»Da mögen Sie recht haben, Genosse Hauptwachtmeister Yu«, sagte Chen, wenig erfreut über die Art und Weise, wie sein Kollege ihn wieder ein mal belehrte. »Aber wenn man lange genug in einem dieser Ausländerhotels arbeitet, verwandelt einen das doch gewiß völlig. Das könnte doch auch sein, oder?«
»In diesem Fall hätten wir inzwischen sicher eine Vermißtenanzeige. Diese ausländischen Geschäftsleiter führen ihre Betriebe sehr gewissenhaft und achten auch sehr auf ihre Mitarbeiter; außerdem pflegen sie immer engen Kontakt zur Polizei.«
»Wohl wahr«, stimmte Chen zu. »Aber dennoch müssen wir etwas tun.«
»Schön und gut, aber was?«
Nach diesem Gespräch war Chen ziemlich ratlos. Stimmte es, daß sie rein gar nichts tun konnten außer warten? Er nahm sich noch einmal ein Foto des toten Mädchens vor, die Vergrößerung. Obwohl es ziemlich unscharf war, sah man, daß sie sehr attraktiv gewesen sein mußte. Wie war es möglich, daß eine solche junge Frau nach fast einer ganzen Woche noch immer nicht vermißt wurde? Es gab doch sicher Menschen, denen sie wichtig war – Freunde, Kollegen, Eltern, Geschwister, vielleicht auch Liebhaber – und die sich nun Sorgen um sie machten. Kein Mensch, vor allem nicht eine solch attraktive junge Frau, konnte so einsam leben, daß sie nach einer Woche niemand vermißte. Er verstand es einfach nicht.
Aber vielleicht hatte sie ja erklärt, daß sie verreisen würde, in Urlaub oder geschäftlich. In diesem Fall könnte es noch lange dauern, bevor ihr Verschwinden Fragen aufwerfen würde.
Er hatte das vage Gefühl, daß dieser Fall kompliziert werden würde, daß er auf ihn wartete. Es war fast wie beim Schreiben …
Ein kurzer Blick auf ein verhülltes Gesicht am Eingang einer Pekinger U-Bahn, ein zarter Jasminblütenduft, der aus einer blauen Teetasse aufstieg, ein bestimmter Rhythmus eines klassischen Gedichts und daneben ein Zug, der in die weite Nacht
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