Qiu Xiaolong
entschwand – all das konnte ihm das Gefühl vermitteln, daß er im Begriff war, ein wundervolles Gedicht zu schreiben. Doch es konnte sich auch als eine vollkommen falsche Fährte erweisen und damit enden, daß er Bruchstücke unbefriedigender Zeilen ausstrich.
In diesem Fall hatte er nicht einmal eine flüchtige Fährte, er hatte nur ein vages Gefühl. Er machte das Fenster auf. In heißen Wellen erreichte ihn der Morgenchor der Zikaden:
Zhiliao, Zhiliao, Zhiliao …
Im Chinesischen bedeutet dieses Wort auch »Verstehen«.
Heute stand noch eine Sitzung in seinem Terminkalender, doch zuvor rief er Dr. Xia an, der die Leiche obduziert hatte.
»Dr. Xia, ich muß Sie um einen Gefallen bitten«, sagte er.
»Nur zu, Genosse Oberinspektor Chen!«
»Erinnern Sie sich noch an die junge Frau, die man in einem Plastiksack aus dem Kanal gefischt hat, Fall Nr. 736? Ich glaube, die Leiche befindet sich noch bei Ihnen, und vielleicht ist der Plastiksack auch noch da. Könnten Sie sich noch einmal damit beschäftigen und mir das Opfer genau schildern? Ich möchte keinen Bericht, sondern eine detaillierte Beschreibung. Und nicht die einer Leiche, sondern die eines Menschen, lebensecht, konkret, markant. So, wie sie zu Lebzeiten ausgesehen haben könnte. Ich weiß, daß Sie viel zu tun haben, Dr. Xia, aber vielleicht könnten Sie mir trotzdem diesen Gefallen tun, mir ganz persönlich.«
Doktor Xia liebte die klassische chinesische Dichtung und wußte, daß Chen Gedichte im sogenannten modernistischen Stil schrieb. »Ich weiß, was Sie sich vorstellen«, sagte er, »aber ich kann Ihnen nicht versprechen, daß meine Beschreibung so lebensecht ausfallen wird wie ein modernistisches Gedicht, das sämtliche Details erfaßt, so häßlich sie auch sein mögen.«
»Seien Sie nicht so streng mit mir, Dr. Xia. Ich habe in letzter Zeit auch den Lyrizismus Li Shangyins in meine Gedichte einfließen lassen. Bei unserem nächsten gemeinsamen Mittagessen zeige ich Ihnen ein paar meiner neueren Werke. Und das Mittagessen geht selbstverständlich auf mich.«
In der anschließenden Sitzung, einer politischen Pflichtübung, bei der es um »Betrachtungen ausgewählter Werke des Genossen Deng Xiaoping« ging, stellte Chen fest, daß seine Gedanken abschweiften und er sich einfach nicht auf das Buch vor ihm konzentrieren konnte.
Dr. Xia war schneller, als er erwartet hatte. Schon um zwei Uhr kam ein zweiseitiges, in seiner ordentlichen Handschrift verfaßtes Fax:
»Folgendes kann man über die Frau sagen, um die Ihre Gedanken offenbar Tag und Nacht kreisen:
1) Sie war um die dreißig Jahre alt. Sie war einen Meter sechzig groß und wog etwa fünfzig Kilo. Sie hatte eine gerade Nase, einen kleinen Mund, große Augen, ungezupfte Augenbrauen sowie gesunde, geradestehende, weiße Zähne. Sie hatte einen ziemlich sportlichen Körper. Ihre Brüste waren klein und fest, ihre Brustwarzen groß. Mit ihrer schlanken Taille, ihren langen, wohlgeformten Beinen und runden Hüften hätte man sie als Schönheit bezeichnen können – ›so schön, daß Fische und Gänse schamvoll wegtauchen‹.
2) Sie hat sich offenbar intensiv gepflegt. Ihre Haut war weich und glatt, wahrscheinlich hat sie sich häufig eingecremt. Ihre Haare waren schwarz und glänzend, ohne ein einziges graues Haar. An Händen und Füßen keinerlei Schwielen. Kein Makel, keine Narben. Die Nägel an Händen und Füßen waren äußerst gepflegt.
3) Ich möchte im Autopsiebericht noch einmal auf folgendes Detail hinweisen: Sie hat kein Kind geboren und auch nie abgetrieben. Ihr Körper weist keine Operationsnarben auf.
4) Sie hatte kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr. Vielleicht ist sie dazu gezwungen worden, doch es fanden sich kaum Blutergüsse an ihrem Körper, bis auf eine leichte Abschürfung am Schlüsselbein, die jedoch auch bei einem leidenschaftlichen Geschlechtsverkehr hätte entstehen können. Kein Blut, keine Erde, keine Haut unter den Nägeln, auch die Haare nicht besonders wirr. In jedem Fall hat sie sich beim Ausziehen nicht heftig gewehrt. Sie trug kein Pessar.
5) Etwa vierzig Minuten vor ihrem Tod hat sie noch etwas gegessen: Schweinekotelett, Kartoffelbrei, grüne Bohnen und Kaviar.«
Nach der Lektüre dieses Berichts fertigte Chen eine neue Beschreibung an, legte ein Foto bei und verschickte diese Unterlagen an eine Reihe großer Arbeitseinheiten. Er bestellte Hunderte von Kopien für den Hauptwachtmeister Yu, der sie an öffentlichen Orten – an
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