Qiu Xiaolong
geäußert, und als Spezialabteilung waren sie berechtigt, den Fall abzulehnen. Die Möglichkeit, daß der Fall ungeklärt blieb, war wenig verlockend. Das würde seinen Status im Büro sicher nicht verbessern.
Er setzte sich auf einen Felsvorsprung, kramte eine halbzerkrümelte Zigarette aus seiner Tasche und zündete sie an. Mit geschlossenen Augen atmete er tief ein.
Zurück in seinem Büro, bemerkte er auf seinem Schreibtisch als erstes eine Kopie des offiziellen Einladungsschreibens, das Parteisekretär Li erwähnt hatte. Aber seine Begeisterung darüber hielt sich, anders als erwartet, in Grenzen.
Am Spätnachmittag traf auch der vorläufige Autopsiebericht ein. Er enthielt kaum etwas von Interesse. Die junge Frau war vermutlich zwischen ein und zwei Uhr morgens am 11. Mai umgekommen und hatte vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr gehabt. Säurephosphattests wiesen auf Sperma hin, doch nachdem die Leiche eine gewisse Zeit im Wasser gelegen hatte, waren nicht mehr genügend Spermien vorhanden, um daraus Rückschlüsse ziehen zu können. Es ließ sich schwer sagen, ob der Geschlechtsverkehr gegen den Willen des Opfers stattgefunden hatte. Fest stand, daß sie erwürgt worden war. Sie war nicht schwanger gewesen. Der Bericht endete mit den Worten: »Tod durch Erwürgen, möglicherweise in Tateinheit mit einem sexuellen Übergriff.«
Die Autopsie war von Dr. Xia Yulong geleitet worden. Nachdem Oberinspektor Chen den Bericht ein zweites Mal durchgelesen hatte, beschloß er, seine endgültige Entscheidung zu verschieben. Er mußte den Fall weder gleich übernehmen noch sofort einer anderen Abteilung übergeben. Wenn sie auf wichtige Hinweise stieß, konnte die Spezialabteilung sich des Falls annehmen, doch wenn sich die Spur als »kalt« erwies, wie der Hauptwachtmeister Yu vermutete, wäre es nicht zu spät, den Fall anderen zu übergeben.
Diese Entscheidung hielt er für richtig und informierte auch Yu, der bereitwillig zustimmte. Doch als er den Telefonhörer auflegte, stellte er fest, daß sich seine Stimmung verdüsterte, wie die Leinwand zu Anfang eines Films, auf der sich Fragmente der Gegend zeigten, die er an diesem Tag besucht hatte.
Dort hatte sie gelegen, verlassen, nackt, ihre langen dunklen Haare wie eine Schlange um ihren Hals gewickelt. Die Blicke zweier Fremder waren auf sie gefallen, bevor sie auf einer Bahre von ein paar weißuniformierten Männern weggeschafft worden war, um dann schließlich von einem älteren Mediziner aufgeschnitten zu werden, der mechanisch ihr Inneres untersuchte, bevor er den Leichnam wieder zunähte, der dann anschließend ins Leichenschauhaus überführt wurde. Und währenddessen hatte Oberinspektor Chen ein Fest in seiner neuen Wohnung gefeiert, hatte getrunken und mit einer jungen Reporterin getanzt, mit ihr über die Dichtung der Tang-Dynastie gesprochen, ihr auf die nackten Zehen getreten.
Plötzlich tat ihm die tote Frau leid. Doch was konnte er jetzt noch für sie tun?
Dann aber beschloß er, nicht weiter darüber nachzudenken. Er rief seine Mutter an und erzählte ihr von dem Buch, das er in seiner Mittagspause gekauft hatte. Darüber freute sie sich sehr, denn ebendieses Buch hatte in ihrer Sammlung noch gefehlt.
»Das Plakat hättest du aber auch mitnehmen sollen, Sohn.«
»Warum denn?«
»Dann hätte das Mädchen von dem Plakat heruntersteigen und dir nachts Gesellschaft leisten können«, scherzte sie.
»Ach«, meinte er lachend, »du mit deinen alten Geschichten. Die hast du mir schon vor dreißig Jahren erzählt! Heute muß ich noch einiges erledigen, aber morgen besuche ich dich, dann kannst du weitererzählen.«
5
SEIT CHENS EINWEIHUNGSFEIER waren einige Tage vergangen. Es war neun Uhr morgens und Chen so in ein Exemplar der Shanghaier Abendzeitung vertieft, daß er das Gefühl hatte, die Nachrichten würden ihn lesen, nicht umgekehrt. Er verschlang den Bericht über ein Go-Spiel zwischen einem Chinesen und einem Japaner. In der Zeitung war ein Go-Brett in Miniaturausgabe abgebildet, auf dem sämtliche Spielzüge der schwarzen und weißen Spielsteine zu sehen waren; jeder Stein saß in einer Position voller Bedeutung, und möglicherweise lagen hinter dieser oberflächlichen Bedeutung noch weitere.
Diese Ablenkung gönnte er sich jedoch nur, um den unvermeidlichen Büroalltag noch ein paar Minuten hinauszuzögern.
Da klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch. »Genosse Oberinspektor, Sie sind solch ein wichtiger hoher Funktionär.« Es
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