Qiu Xiaolong
Oberinspektor Chen auch deshalb, weil die junge Frau darauf nicht nur hübsch oder lebhaft wirkte, sondern richtig strahlend, wie von innen heraus leuchtend. Chen kam es vor, als bargen diese Fotos eine Botschaft, doch er konnte sie nicht entschlüsseln.
Daneben gab es noch einige ziemlich verblüffende Nahaufnahmen. Auf der einen lag sie auf einer Chaiselonge, die runden Schultern nur von einem weißen Badetuch bedeckt; auf einer anderen saß sie in einem Frotteebademantel an einem Marmortisch und ließ die nackten Beine baumeln; auf einer weiteren kniete sie mit zerzausten Haaren und irgendwie atemlos wirkend im Badeanzug mit heruntergestreiften Trägern auf dem Boden.
Oberinspektor Chen blinzelte und versuchte, den Bann zu brechen, in den Guans Fotos ihn gezogen hatten.
Wer hatte diese Fotos gemacht, wo waren sie entwickelt worden? Vor allem die Nahaufnahmen? Die staatlichen Fotoläden hätten sich wahrscheinlich geweigert, denn manche dieser Bilder konnten mit Fug und Recht als »bourgeois-dekadent« bezeichnet werden. Und bei skrupellosen privaten Fotoläden hätte sie es riskiert, daß der Betreiber solche Bilder für gutes Geld verscherbelte. Es hätte ihre politische Karriere ruiniert, wenn jemand auf ihnen die nationale Modellarbeiterin erkannt hätte.
Obwohl auf jede Albumseite etwa vier Fotos im Standardformat gepaßt hätten, klebte auf mehreren Seiten immer nur eines oder zwei. Die letzten Seiten waren leer.
Als er die Alben wieder an ihren Platz zurücklegte, war es bereits Mittag. Er verspürte jedoch keinen Hunger. Durch das Fenster vernahm er das – wenn auch ferne – Dröhnen eines Baggers. Überall in Shanghai wurde gebaut.
Oberinspektor Chen beschloß, sich mit Guans Nachbarn zu unterhalten. Er versuchte sein Glück gleich an der nächsten Tür. Diese war noch immer mit verblaßten roten Papierstreifen geschmückt, mit dem das chinesische Frühlingsfest gefeiert wurde, und daneben baumelte – wohl ebenfalls zur Zierde – ein Yin-Yang-Symbol aus Plastik.
Eine kleine, hellhäutige Frau öffnete die Tür. Sie trug weite Hosen, einen kurzärmeligen Baumwollpullover und eine weiße Schürze. Offenbar war sie gerade beim Kochen, denn sie wischte sich die eine Hand an der Schürze ab, während sie mit der anderen die Tür aufhielt. Chen schätzte sie auf Mitte Dreißig. Um ihren Mund zeigten sich die ersten Falten.
Chen stellte sich vor und zeigte ihr seinen Ausweis.
»Treten Sie ein«, sagte sie. »Ich heiße Yuan Peiyu.«
Wieder ein sehr funktionaler Raum. Zwar war er genauso groß wie derjenige Guans, doch wirkte er kleiner, weil Kleider und einiges andere herumlagen. In der Mitte stand ein runder Tisch, auf dem gefüllte Teigtaschen aufgereiht waren, daneben noch zu füllende Teigtaschen und eine Schüssel mit Schweinefleischfüllung. Unter dem Tisch kroch ein kleiner Junge hervor, der in einer Art Uniform steckte. Er kaute an einem Brötchen und starrte Chen an. Schließlich streckte der kleine Soldat seine klebrige Hand aus und tat so, als wolle er sein Brötchen wie eine Granate auf Chen werfen.
»Bum!«
»Hör auf! Siehst du nicht, daß das ein Polizist ist?« tadelte ihn seine Mutter.
»Lassen Sie ihn doch«, sagte Chen. »Entschuldigen Sie die Störung, Genossin Yuan. Sie haben sicher vom Tod Ihrer Nachbarin gehört. Ich wollte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Tut mir leid«, erwiderte sie, »aber da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich weiß rein gar nichts von ihr.«
»Sie wohnen doch schon mehrere Jahre neben ihr?«
»Ja, etwa fünf.«
»Dann haben Sie sie doch sicher ab und zu beim Kochen auf dem Gang oder beim Wäschewaschen am Spülstein getroffen.«
»Na ja, was kann ich dazu sagen? Sie ging morgens um sieben aus dem Haus und kam abends um sieben zurück, manchmal auch noch später. Sobald sie in ihrem Zimmer war, zog sie die Tür hinter sich zu. Sie hat uns nie eingeladen oder besucht. Die Wäsche hat sie im Kaufhaus gewaschen, dort stehen ja genügend Waschmaschinen. Das konnte sie dort sicher umsonst machen, und Waschpulver gab’s wahrscheinlich auch gratis. Sie aß in der Kantine. Ein- oder zweimal im Monat hat sie zu Hause gekocht, Instantnudeln oder so etwas, mehr nicht, obwohl sie die ganze Zeit ihren Herd im Gang stehen hatte. Ihr geheiligtes Recht auf den öffentlichen Raum …«
»Sie haben also nie mit ihr gesprochen?«
»Wenn wir uns sahen, hat sie mir zugenickt, das war aber auch schon alles. Als Prominente hat sie uns die kalte Schulter gezeigt.
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