Qiu Xiaolong
Warum hätten wir uns aufdrängen sollen?«
»Vielleicht war sie einfach zu beschäftigt?«
»Sie war bedeutend, wir sind völlig unbedeutend. Sie hat Großes geleistet für die Partei, wir schlagen uns mit Müh und Not durchs Leben.«
Überrascht über diese Ressentiments, sagte Chen: »Egal, in welcher Stellung, wir arbeiten doch alle für unser sozialistisches China.«
»Für unser sozialistisches China?« klagte sie mit erhobener Stimme. »Im letzten Monat hat mich die Staatsfabrik entlassen. Ich muß meinen Sohn alleine durchbringen, sein Vater ist vor einigen Jahren gestorben. Also mache ich jetzt Teigtaschen, von sieben Uhr früh bis sieben Uhr abends. Wollen Sie das etwa als ›Arbeiten für das sozialistische China‹ bezeichnen? Und morgens um sechs muß ich sie auf dem Markt verkaufen.«
»Das tut mir leid, Genossin Yuan«, sagte er. »Im Moment befindet sich China in einer Übergangsphase, aber es wird sicher alles besser werden.«
»Warum sollte es Ihnen leid tun? Es ist ja nicht Ihre Schuld. Aber ersparen Sie mir einen politischen Vortrag! Genossin Guan Hongying wollte nichts mit uns zu tun haben, Punktum!«
»Hat sie denn nicht manchmal Besuch von Freunden bekommen?«
»Das kann schon sein, aber mich ging das nichts an.«
»Ich verstehe, Genossin Yuan«, sagte er. »Eine Frage noch: Haben Sie denn an Guan in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches bemerkt?«
»Ich bin keine Detektivin, also weiß ich auch nicht, was gewöhnlich und was ungewöhnlich ist.«
»Noch eine allerletzte Frage: Haben Sie sie am Abend des 10. Mai gesehen?«
»Am 10. Mai? Lassen Sie mich mal nachdenken«, sagte sie. »Ich erinnere mich nicht daran, sie an diesem Tag überhaupt gesehen zu haben. Am Abend fand in der Schule meines Sohnes ein Treffen statt. Danach sind wir früh ins Bett gegangen. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, ich muß immer früh raus, um meine Teigtaschen zu verkaufen.«
»Vielleicht überlegen Sie noch mal. Sie können mich jederzeit anrufen, falls Ihnen noch etwas einfällt«, sagte er. »Und das mit Ihrer Fabrik tut mir wirklich leid. Hoffen wir, daß es bald besser wird.«
»Danke«, sagte sie, wie um sich nun ihrerseits zu entschuldigen. »Vielleicht noch eins, jetzt, wo ich darüber nachdenke: In den letzten Monaten ist sie oft ziemlich spät heimgekommen, so um Mitternacht oder noch später. Seit meiner Kündigung mache ich mir zu viele Sorgen, um richtig tief zu schlafen, deshalb habe ich sie auch ein paarmal so spät heimkommen hören. Aber vielleicht hatte sie ja auch als nationale Modellarbeiterin extrem viel zu tun.«
»Ja, vielleicht«, sagte er. »Aber wir werden dem nachgehen.«
»Mehr weiß ich nicht«, sagte sie.
Oberinspektor Chen bedankte sich und ging.
Als nächstes wollte er Guans Nachbarn von der anderen Gangseite, neben der Gemeinschaftstoilette, befragen. Er wollte gerade an der winzigen Klingel läuten, als die Tür aufgerissen wurde. Ein junges Mädchen stürzte Richtung Treppe, eine Frau mittleren Alters stand wütend im Türrahmen, die Hände in die Hüften gestemmt. »Du kleines Miststück meinst also, daß du mich jetzt auch noch fertigmachen kannst! Möge der Himmel dich einen Tod mit tausend Messerstichen sterben lassen!« Dann fiel ihr Blick auf ihn, und sie funkelte ihn wütend an.
Sofort nahm er die Haltung eines beschäftigten Polizeibeamten ein, der keine Zeit zu verlieren hat, und streckte ihr mit einer aus dem Fernsehen wohlbekannten Geste seine offizielle Visitenkarte entgegen.
Daraufhin wurde sie etwas freundlicher.
»Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte er. »Fragen über Guan Hongying, Ihre Nachbarin.«
»Soviel ich weiß, ist sie tot«, sagte sie. »Ich heiße Su Nan-hua. Tut mir leid wegen des Aufstands, den Sie gerade mitbekommen haben. Meine Tochter treibt sich mit einem jungen Taugenichts rum und will einfach nicht auf mich hören. Es macht mich schier wahnsinnig.«
Bei dem viertelstündigen Gespräch erfuhr Chen nahezu dasselbe wie vorher bei Yuan, nur daß Su noch mehr Vorurteile hatte. Ihr zufolge lebte Guan all die Jahre völlig zurückgezogen. Für eine junge Frau ziemlich sonderbar, aber für so eine bekannte Persönlichkeit auch wieder nicht, fand Su.
»Sie meinen also, in all den Jahren hatten Sie keine einzige Gelegenheit, Guan näher kennenzulernen?«
»Klingt ziemlich lächerlich, nicht wahr?« meinte sie. »Aber genauso war es.«
»Und sie hat nie mit Ihnen gesprochen?«
»Na ja, jedenfalls nicht so richtig. ›Schönes
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