Qiu Xiaolong
sie ziemlich unbeliebt.«
»Das klingt plausibel«, meinte Chen. »Ich habe mich schon gewundert, warum ihre Nachbarinnen so viele Vorurteile hegten.«
»Eigentlich haben sie nichts gegen sie. Sie sind nur alle ziemlich unzufrieden. Und noch eins: Guan hatte ein Zimmer für sich allem, die anderen müssen ihr Zimmer mit der ganzen Familie teilen.«
»Ja, da haben Sie auch wieder recht«, sagte Chen. »Aber Sie haben ja auch ein Zimmer für sich allein.«
»Na ja, eigentlich nicht«, sagte Qian. »Meine Stieftochter lebt bei ihrem leiblichen Vater, aber sie ist scharf auf dieses Zimmer. Deshalb hat sie hier auch all die Hongkong-Poster aufgehängt.«
»Ach so.«
»In so einem Wohnheim leben ganz bestimmte Menschen. Theoretisch wohnen wir ja alle nur vorübergehend hier. Deshalb kümmern wir uns nicht so sehr um die Beziehungen zu unseren Nachbarn. Für uns ist es kein richtiges Zuhause. Sehen Sie sich bloß mal die Bäder an«, fuhr er fort. »Es gibt auf jedem Stockwerk eine Gemeinschaftstoilette. Wenn alle glauben, daß sie am nächsten Tag umziehen, wer hält dann schon die Toiletten sauber?«
»Durch Sie wird mir wirklich vieles klarer, Genosse Qian.«
»Guan hat es nicht leicht gehabt«, sagte Qian. »Eine alleinstehende junge Frau, den ganzen Tag Versammlungen und Konferenzen, und am Abend dann wieder ganz allein zu Hause, und das an einem Ort, den sie nicht als ihr Zuhause betrachtete.«
»Könnten Sie mir das etwas näher erklären?« bat Chen. »Ist Ihnen etwas Bestimmtes aufgefallen?«
»Na ja, es ist jetzt einige Monate her, da konnte ich nicht einschlafen. Also stand ich wieder auf und beschäftigte mich ein paar Stunden mit meiner Kalligraphie. Danach konnte ich noch immer nicht schlafen. Ich lag wach im Bett, da hörte ich drunten ein merkwürdiges Geräusch. Das alte Wohnheim ist nicht gerade schalldicht, man hört alles durch. Ich spitzte also meine Ohren, und da merkte ich, daß es Guan war, die da drunten herzzerreißend schluchzte. Um drei Uhr morgens! Sie war untröstlich.«
»War sie denn allein?«
»Ich hatte schon das Gefühl, denn ich hörte keine andere Stimme«, erwiderte Qian. »Sie weinte mindestens eine halbe Stunde lang.«
»Ist Ihnen noch etwas anderes aufgefallen?«
»Eigentlich nicht, nur die Tatsache, daß es ihr wahrscheinlich ähnlich ging wie mir, daß sie ebenfalls schlecht schlief. Oft drang durch die Ritzen im Fußboden Licht nach hier oben.«
»Eine Ihrer Nachbarinnen meinte, daß sie häufig erst sehr spät nachts heimgekommen sei«, sagte Chen. »War es vielleicht deswegen?«
»Ich weiß nicht. Manchmal hörte ich sie spätnachts herumlaufen, aber ich hatte wirklich kaum Kontakt zu ihr«, sagte Qian und nippte an seinem kalten Tee. »Vielleicht unterhalten Sie sich noch mit Zuo Qing. Sie ist ein pensionierter Kader, aber um nicht ganz untätig zu sein, kümmert sie sich um die Nebenkostenabrechnungen hier im Haus. Außerdem ist sie Mitglied des Komitees für Nachbarschaftssicherheit. Vielleicht kann sie Ihnen mehr erzählen, zumal sie auch in Guans Stockwerk wohnt, gleich neben der Treppe.«
Oberinspektor Chen ging wieder nach unten.
Eine ältere Frau mit einer goldgerahmten Brille öffnete die Tür weit und fragte: »Was wollen Sie von mir?«
»Entschuldigen Sie die Störung, Genossin Zuo. Ich komme wegen Guan Hongying.«
»Sie ist tot, wie ich gehört habe«, sagte sie. »Kommen Sie lieber rein, ich habe etwas auf dem Herd stehen.«
»Danke«, sagte er und musterte den Herd vor ihrer Tür, auf dem nichts kochte. Nachdem er eingetreten war, zog sie die Tür hinter ihm zu, und sogleich erhielt er die Antwort auf seine ungestellte Frage: Hinter der Tür stand eine Gasflasche mit einer kleinen Flamme, auf der in einer flachen Pfanne etwas Wohlriechendes brutzelte.
Zuo trug einen schwarzen Rock und eine silbergraue Seidenbluse, deren oberster Knopf geöffnet war. Ihre hochhackigen Schuhe waren ebenfalls grau. Sie wies ihm einen Platz auf dem scharlachroten Plüschsofa neben dem Fenster, dann wandte sie sich wieder ihrer Pfanne zu.
»Man kommt nicht so leicht an eine Gasflasche«, sagte sie, »und außerdem ist es gefährlich, sie in den Gang neben die Kohleöfen der anderen zu stellen.«
»Ich verstehe«, sagte er. »Genossin Zuo, ich hörte, daß Sie für das Wohnheim hier viel tun.«
»Na ja, ich kümmere mich ehrenamtlich um so manches. Jemand muß es ja schließlich machen.«
»Dann hatten Sie sicher viel Kontakt zu Guan Hongying.«
»Nein, viel
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