Qiu Xiaolong
Wetter heute‹ –›Haben Sie schon zu Abend gegessen?‹ und so weiter. Nichts als belangloses Zeug.«
»Und am Abend des 10. Mai, Genossin Su?« fragte er. »Haben Sie an diesem Abend mit ihr gesprochen oder sie gesehen?«
»Na ja, an diesem Abend fiel mir tatsächlich etwas auf. Ich las noch ziemlich spät in der neuesten Nummer der Familie. An und für sich hätte ich nicht gemerkt, daß sie aus dem Haus ging, aber sie setzte etwas Schweres vor meiner Tür ab. Deshalb schaute ich nach. Und da sah ich sie die Treppe runtergehen, wußte aber nicht, was sie da abgestellt hatte. Ich sah nur, daß sie einen schweren Koffer trug. Also war es wahrscheinlich dieser Koffer gewesen. Es war schon ziemlich spät. Weil ich neugierig war, blickte ich aus dem Fenster, um zu sehen, ob denn draußen ein Taxi auf sie wartete, aber ich bemerkte keines.«
»Sie dachten also, daß sie verreisen wollte?«
»Ja, das nahm ich an.«
»Und wie spät war es da?«
»Kurz nach halb elf.«
»Woher wissen Sie das so genau?«
»Ich sah mir wie jeden Donnerstag abend Hoffnung im Fernsehen an. Die Sendung ist um halb elf aus. Und dann nahm ich die Zeitschrift zur Hand. Als ich das dumpfe Geräusch hörte, war ich mit dem Lesen noch nicht sehr weit gekommen.«
»Hat Sie denn mit Ihnen über die Reise gesprochen, die sie unternehmen wollte?«
»Nein, mit mir nicht.«
»Fällt Ihnen zu dieser Nacht sonst noch etwas ein?«
»Nein, sonst nichts.«
»Rufen Sie mich an, wenn Ihnen doch noch etwas in den Sinn kommt«, sagte er und stand auf. »Meine Telefonnummer steht auf meiner Visitenkarte.«
Als nächstes ging Chen in den dritten Stock, um zu einem Zimmer zu gelangen, das fast genau über Guans Zimmer lag. Ein weißhaariger Mann Mitte Sechzig öffnete die Tür. Er hatte ein intelligentes Gesicht, gute Augen und tiefe Furchen um die Mundwinkel. Nachdem er Chens Karte genau inspiziert hatte, meinte er: »Treten Sie ein, Genosse Oberinspektor. Mein Name ist Qian Yizhi.«
Chen trat in einen schmalen Gang mit einem Gasherd und einem zementierten Waschbecken, dann kam eine Innentür. Diese Unterkunft war augenscheinlich besser als die seiner Nachbarn. Als Chen den eigentlichen Wohnraum betrat, wunderte er sich über die vielen Zeitschriftenbilder, die hier die Wände zierten, Fotos von Hongkong und von taiwanesischen Schlagersängern wie Liu Dehua, Li Min, Zhang Xueyou und Wang Fei.
»Das sind die Lieblingsfotos meiner Stieftochter«, sagte Qian und nahm einen Stapel Zeitungen von einem recht ordentlich wirkenden Sessel. »Nehmen Sie doch Platz!«
»Ich ermittle im Fall Guan Hongying«, sagte Chen. »Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie mir ein paar Dinge über sie berichten könnten.«
»Viel wird es leider nicht sein«, meinte Qian. »Als Nachbarin hat sie kaum mit mir gesprochen.«
»Ja, ich habe mich schon mit einigen Leuten unterhalten; sie meinten, Guan habe sich wohl zu bedeutend gefühlt, um sich mit ihnen abzugeben.«
»Einige Hausbewohner dachten, sie sei eingebildet und hielte sich immer für etwas Besseres, aber ich glaube nicht, daß das stimmt.«
»Warum?«
»Na ja, ich bin inzwischen im Ruhestand, aber ich war gut zwanzig Jahre lang ein Modell-Lehrer, zwar nur auf lokaler Ebene, also nicht landesweit und insofern lange nicht so berühmt wie sie, aber ich weiß, wie es ist«, sagte Qian und strich sich über sein sorgfältig rasiertes Kinn. »Wenn man zum Vorbild ernannt wird, benimmt man sich auch entsprechend.«
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, sagte Chen.
»So behaupteten die Leute zum Beispiel immer, daß ich mit meinen Schülern außerordentlich geduldig wäre, aber das stimmte gar nicht, zumindest nicht immer. Doch sobald man ein Modell-Lehrer ist, ist man gezwungen, sich so zu verhalten.«
»Es ist also eine Art Zaubermaske. Wenn man die Maske trägt, integriert man sie in seine Persönlichkeit.«
»Stimmt«, sagte Qian. »Nur daß es nicht viel mit Zauberei zu tun hat.«
»Na ja, aber eigentlich hätte sie doch auch hier im Wohnheim eine vorbildliche Nachbarin sein sollen, oder?«
»Ja, aber es kann ziemlich ermüdend sein, ständig mit einer Maske zu leben. Keiner kann so eine Maske die ganze Zeit tragen, man braucht einfach einmal eine Pause. Warum sollte sie hier im Wohnheim weiterhin ihre Rolle spielen und sich gegenüber den Nachbarn genauso dienstfertig erweisen wie gegenüber ihren Kundinnen? Ich glaube, sie war einfach zu müde, um sich auf die Nachbarn einzulassen, und deshalb war
Weitere Kostenlose Bücher