Qiu Xiaolong
ausgestattet. Qing Xiaotong war zwar zurück von seinen Flitterwochen, doch er hatte noch immer einen sehr verträumten Blick und wirkte keineswegs so, als sei er tatsächlich in der Arbeit angekommen; Liu Longxiang kurierte noch seine Verletzung aus; Oberinspektor Chens Terminkalender füllte sich immer mehr mit Versammlungen und sonstigen Aktivitäten, so daß letztlich Hauptwachtmeister Yu die Hauptverantwortung für ihre Abteilung trug.
Warum sollten sie soviel Zeit auf einen einzigen Fall verwenden?
Doch Yu kannte die Antwort auf diese Frage: Es ging um politische Prioritäten, auch wenn es seiner Meinung nach ganz und gar nichts Politisches war, sondern ein einfacher Mord.
Doch die anderen waren anderer Meinung, zumindest Kommissar Zhang, der in seinem ordentlichen, unscheinbaren Mao-Anzug mit wie üblich hochgeknöpftem Kragen an der Stirnseite des Tisches saß. Mit einem Stift in der Hand blätterte er in einem ledergebundenen Notizbuch. Der Kommissar hatte sich mit ihm noch nie über etwas anderes als Politik unterhalten. Was hatte dieser dürre grauhaarige Alte wohl an Trumpfkarten im Ärmel? fragte sich Yu. Auf ein Nicken des Oberinspektors Chen hin trug er als erster seinen Bericht vor.
»Wir haben viel Zeit auf diese Ermittlungen verwandt. Ich habe mit dem Direktor des Kaufhauses Nummer 1 sowie mit Guans Kolleginnen gesprochen. Außerdem habe ich das Shanghaier Taxibüro und eine Reihe von Reisebüros überprüft. Nun würde ich gerne einige wichtige Aspekte meiner Recherchen erläutern:
Als nationale Modellarbeiterin führte Guan ein vorbildliches Leben, sie widmete sich voll und ganz dem kommunistischen Anliegen und war mit ihren Parteiaktivitäten so beschäftigt, daß ihr kaum Zeit für etwas anderes blieb. Sie scheint nie einen Freund gehabt zu haben, auch zum Zeitpunkt ihres Todes hatte sie keine feste Beziehung. Selbstverständlich leistete sie an ihrem Arbeitsplatz ausgezeichnete Arbeit. Vielleicht haben sie manche um ihre Stellung beneidet, doch es besteht kein Grund zu der Vermutung, daß sie dies zum Opfer eines Mörders gemacht hat.
An dem Tag, an dem sie ermordet wurde, bemerkten ihre Kollegen nichts Ungewöhnliches an ihr. Es war alles wie immer. Mittagessen in der Kantine um zwölf, eine Parteisitzung am Nachmittag. Sie erwähnte ihren Kolleginnen gegenüber, daß sie in Urlaub gehen wolle, sagte aber nicht wohin. Nicht zu weit weg und nicht sehr lange, vermutete man. Sonst hätte sie dem Direktor ein schriftliches Urlaubsgesuch vorlegen müssen, was sie nicht getan hat. Zum letztenmal wurde sie im Kaufhaus um etwa zehn nach sieben gesehen; ihre Schicht wäre schon früher zu Ende gewesen, doch es war nicht unüblich, daß sie über das Schichtende hinaus arbeitete. Danach kehrte sie in ihr Wohnheim zurück, wo sie zuletzt um circa halb elf, vielleicht auch etwas später gesehen wurde. Sie war allein und trug einen Koffer, offenbar war sie auf dem Weg in ihren Urlaub.
Jetzt wird es schwierig: Wo ging sie hin? Heute werden sehr viele Gruppenreisen veranstaltet. Ich habe sämtliche Reisebüros in Shanghai überprüft, doch in keinem hat Guan gebucht. Natürlich hätte sie auch allein fahren können, wobei eine Flugreise nicht in Frage kommt, denn sie war auch bei keiner Fluglinie gemeldet. Vielleicht ist sie zum Bahnhof gefahren. Unweit ihres Wohnheims gibt es eine Busverbindung direkt zum Bahnhof. Vielleicht ist sie also zur Xizang Zhonglu gegangen, um dort in den Bus Nr. 64 zu steigen. Fahrplanmäßig hält der letzte Bus um 11.35 Uhr an dieser Haltestelle, danach verkehrt er nur noch stündlich. Es ist jedoch einigermaßen unwahrscheinlich, daß eine junge Frau mit einem schweren Koffer allein zur Haltestelle geht und es dabei riskiert, den letzten Bus zu versäumen.
Also gibt es Gründe zu der Annahme, daß sie sich ein Taxi nahm – egal, ob sie nun in einer Gruppe oder allein verreisen wollte. Aber sie ist nie an ihr Ziel gelangt. Irgendwann auf dieser Fahrt wurde sie überfallen und ermordet, und der Täter kann kein anderer sein als der Taxifahrer. Damit wäre auch der Fundort der Leiche erklärt: Ein Taxifahrer hätte die Möglichkeit gehabt, den Leichnam zu diesem entlegenen Kanal zu bringen und ihn dort loszuwerden. Das ist meine Hypothese, und deshalb habe ich auch in der Taxizentrale ermittelt.
Ursprünglich wollte ich sämtliche Quittungen dieser Nacht durchsehen, um herauszufinden, ob es Fahrer gab, die für die fraglichen Stunden keine Einnahmen vorweisen konnten.
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