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Qiu Xiaolong

Qiu Xiaolong

Titel: Qiu Xiaolong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tod einer roten Heldin
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doch gern ein wenig unter Druck setzen: Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee im Riverside?«
    »So direkt vor dem Wenhui-Haus?«
    »Warum nicht?« Er spürte, daß sie zögerte. Vielleicht würden Wenhui-Mitarbeiter, die auf dem Bund vorbeikamen, sie sehen. Er selbst hatte schon Klatsch über sie beide im Präsidium mitbekommen. »Nun kommen Sie schon, wir leben in den neunziger Jahren!«
    »Schon gut, schon gut«, meinte sie.
    Das Riverside Cafe hatte eine große Zedernholzveranda, die weit in den Fluß hineinragte. Sie stiegen eine Wendeltreppe aus silbergrauem Schmiedeeisen hinauf und setzten sich an einen weißen Plastiktisch unter einem großen, geblümten Sonnenschirm. Von hier aus bot sich ihnen ein phantastischer Blick auf den Fluß und die bunten Schiffe, die langsam an seinem Ostufer entlangzogen. Eine Bedienung brachte ihnen Kaffee, Saft und eine Glasschüssel mit Obst.
    Der Kaffee roch frisch, der Saft ebenso. Sie nahm einen großen Schluck Saft. Dann löste sie den Schal, der ihr Haar zusammengehalten hatte, und legte das eine Bein entspannt über die Armlehne ihres Stuhls.
    Erstaunt bemerkte er, wie anders ihr Gesicht im Sonnenlicht aussah. Jedesmal, wenn er sie traf, nahm er andere Züge an ihr wahr. Einmal wirkte sie wie ein Blaustrumpf, an ihrem Bleistift kauend, reif und nachdenklich, die Last der neuesten Weltnachrichten auf ihren Schultern, doch schon im nächsten Moment war sie wieder ein Mädchen, das in ihren hölzernen Sandalen auf ihn zutrippelte. Aber an diesem Maimorgen wirkte sie wie eine typische junge Frau aus Shanghai, weich, gelassen, entspannt in der Gesellschaft eines Mannes, den sie mochte.
    Um den Hals trug sie ein dünnes rotes Band mit einem hellgrünen Jadeanhänger. Diese kleinen Glücksbringer waren bei den Shanghaier Mädchen sehr beliebt. Sie schob sich einen Kaugummi in den Mund, lehnte den Kopf zurück und machte eine große Blase.
    In diesem Augenblick verspürte er keinerlei Bedürfnis, etwas zu sagen. Er roch ihren frischen, kühlen Pfefferminzatem. Eigentlich hatte er ihre Hand ergreifen wollen, doch statt dessen tippte er mit den Fingern auf die Papierserviette, die vor ihr auf dem Tisch lag.
    Das herrliche Gefühl, über dem Bund und allem anderen zu stehen, erfüllte ihn.
    »Woran denken Sie.’’« fragte er sie schließlich.
    »Welche Maske tragen Sie denn gerade – die des Polizisten oder die des Dichters?«
    »Das fragen Sie mich jetzt schon zum zweitenmal. Sind die beiden denn so verschieden?«
    »Oder vielleicht die eines wohlhabenden ausländischen Geschäftsmanns?« fragte sie kichernd. »Jedenfalls sind Sie so angezogen.«
    Er trug seinen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine seiner wenigen Krawatten, die etwas exotisch wirkten – das Geschenk eines ehemaligen Schulfreundes, der inzwischen mehrere High-Tech-Firmen in Toronto besaß. Dieser Freund hatte ihm erläutert, das Muster auf der Krawatte stelle eine romantische Szene in einem modernen kanadischen Theaterstück dar. Er hatte sich nicht in seiner Polizeiuniform mit ihr treffen wollen.
    »Oder die Maske eines Verliebten«, sagte er impulsiv, »verliebt von Kopf bis Fuß.« Er blickte ihr in die Augen und ging davon aus, daß seine Absichten nun sonnenklar waren.
    »Sie sind unmöglich«, sagte sie lächelnd. »Wo Sie doch mitten in einem Mordfall stecken.«
    Tatsächlich beunruhigte es ihn etwas, daß er für ihre Reize so empfänglich war, wo er sich eigentlich auf die Lösung seines Falls konzentrieren sollte. Zu Lebzeiten war Guan Hongying wahrscheinlich ebenso reizvoll gewesen, kam ihm in den Sinn, und dabei fielen ihm die Fotos in den wolkenverhüllten Bergen ein, wo sie lebhaft und lebenslustig in verschiedenen eleganten Kleidern posiert hatte.
    Eine Weile saßen sie schweigend an ihrem Tisch und beobachteten einen alten Sampan, der auf den Wellen hin- und herschaukelte. Eine Welle spülte ihn in die Nähe der Kaimauer, und von der Wäscheleine, die quer über Deck gespannt war, fiel eine Stoffwindel.
    »Ein Familienhausboot, und das Ehepaar arbeitet drunten in der Kabine«, sagte er. »Wahrscheinlich leben sie auf dem Schiff.«
    »Ein zerrissenes Segel, verheiratet mit einem geborstenen Ruder«, sagte sie, noch immer kaugummikauend.
    Eine in der Sonne schillernde Metaphernblase.
    Wie um ihre Erwartungen zu befriedigen, krabbelte ein halbnacktes Baby aus der Kabine unter der Persenning hervor und grinste sie an wie eine Tonpuppe aus Wuxi.
    In diesem Moment kam es ihnen vor, als hätten sie

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