Qiu Xiaolong
wuchsen aus dem Asphalt, wie Pilze nach einem Frühlingsregen, und verschärften das Verkehrsproblem. In der Nähe der Eastern-Buchhandlung bemerkte er, daß ein weiteres altes Gebäude abgerissen wurde. Bald würde an seiner Stelle ein neues Luxushotel stehen. Ein importierter roter Sportwagen fuhr an ihm vorbei. Das junge Mädchen neben dem Fahrer winkte einem Briefträger zu, der mit seiner Post spät dran war.
Shanghai veränderte sich rapide, und die Bewohner mit ihm.
Chen nahm sich davon nicht aus – seine Polizeiarbeit wurde ihm immer wichtiger. Dennoch machte er einen kurzen Abstecher in eine Buchhandlung, um nach einer Gedichtsammlung zu suchen. Oberinspektor Chen war wirklich nicht besessen von dem Fall, nicht einmal von der politischen Bedeutung, die dieser für seine Karriere haben mochte.
Vielleicht gab es eine Seite an ihm, die von Büchern besessen, nostalgisch oder introspektiv war. Sentimental, ja sogar auf gewisse klassisch chinesische Weise sinnlich – der Duft der roten Ärmel erfüllt deine nächtliche Lektüre. Aber daneben gab es auch noch eine andere Seite. Keineswegs unromantisch, aber doch realistisch, wenngleich nicht so ehrgeizig, wie Wang es ihm im Riverside Cafe vorgeworfen hatte. Ihm kam eine Zeile in den Sinn, die er sich in seiner Studienzeit eingeprägt hatte: »Das nutzloseste Wesen ist ein armer Bücherwurm.« Gao Shi hatte dies behauptet, ein bekannter, sehr erfolgreicher General aus der Mitte der Tang-Dynastie, der gleichzeitig ein hervorragender Dichter gewesen war.
Zu General Gaos Lebzeiten wurde die einstmals blühende Tang-Dynastie von Hungersnöten, Korruption und Kriegen heimgesucht. Der talentierte Dichter-General hatte sich vorgenommen, das Land durch sein politisches Engagement voranzubringen.
Heute unterlag China abermals tiefgreifenden Veränderungen, das etablierte System und die etablierten Glaubenssätze standen vor ernsten Herausforderungen. An einer solchen historischen Weggabelung neigte auch Chen zu der Annahme, daß er als Oberinspektor mehr bewirken konnte als als Dichter. Natürlich war das in China – und wahrscheinlich auch überall sonst auf der Welt – eher möglich, wenn man Macht hatte, dachte Oberinspektor Chen, als er den Schlüssel in das Schloß von Guans Wohnheimzimmer steckte.
Zu seiner großen Enttäuschung mußte er feststellen, daß sich die Hoffnungen, die ihn zu einem zweiten Besuch von Guans Zimmer veranlaßt hatten, rasch in Luft auflösten. Nachdenklich stand er unter dem gerahmten Porträt des Genossen Deng Xiaoping. In dem Raum schien sich nichts verändert zu haben, und er fand auch nichts Neues auf den Fotos, obwohl es erstaunlich viele von Guan in den Bergen gab. Er nahm diese Fotos aus dem Album und breitete sie auf dem Tisch aus. Es waren lebhafte Bilder in grellen Farben: Guan, wie sie neben der berühmten Willkommenskiefer steht und in die Kamera lächelt; wie sie zur Krone des Baumes emporblickt und die Arme den weißen Wolken entgegenreckt; wie sie auf einem Felsen am Ufer eines Bergbaches sitzt und die Füße im kühlen Wasser baumeln läßt.
Ein Foto zeigte sie in einem Hotelzimmer. Sie hockte ziemlich dürftig bekleidet auf einer Fensterbank. Ihre langen, wohlgeformten, nackten Beine ragten anmutig unter einem kurzen Baumwollrock hervor. Die Morgensonne schien durch das dünne Baumwolloberteil, das in diesem Licht fast durchsichtig wirkte; unter dem Stoff hoben sich deutlich ihre Brüste ab, man ahnte die Kurve ihrer Taille. Hinter ihr, umrahmt vom Fenster, ragte eine grüne Bergkette auf.
All diese Aufnahmen stammten eindeutig aus den Bergen. Doch auf keinem einzigen Foto war sie mit anderen Leuten zusammen zu sehen. War sie wirklich so narzißtisch gewesen?
Daß sie diese Reise allein unternommen hatte, war wenig wahrscheinlich, darauf hatte ja auch Wang im Cafe hingewiesen. Doch gesetzt den Fall, sie war tatsächlich allein gereist – wer hatte dann all diese Fotos aufgenommen? Manche waren aus einem recht komplizierten Winkel oder aus beträchtlicher Entfernung geschossen worden. Mit einem Selbstauslöser hätte sie das alles kaum geschafft. Unter ihren wenigen Habseligkeiten befand sich kein Fotoapparat, und Chen hatte in ihren Schubladen auch keine Filmrollen, weder volle noch leere, entdeckt.
Der Genosse Deng Xiaoping schien sich aus seinem Rahmen heraus zu ihm hinabbeugen zu wollen, um sich unmutig über Chens Unmut zu zeigen.
Ihm kam eine Metapher aus einem von ihm übersetzten Kriminalroman in den
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