Qiu Xiaolong
Grund, weshalb er ihre Gesellschaft stets genoß. Sie war zwar kein Bücherwurm, aber dennoch sehr belesen.
»Ich war früher mal ganz gut im Tai-Chi. Und auch im Tuishou.«
»Tatsächlich?«
»Aber das ist lange her. Wahrscheinlich habe ich eine Menge vergessen, aber Sie können sich ja mal an mir versuchen.«
Tuishou, das Messen der Kräfte durch Händedrücken, war eine spezielle Form des Tai-Chi. Zwei Leute stehen sich, die Handinnenflächen gegeneinandergepreßt, gegenüber und drücken oder lassen sich schieben, und zwar in einem langsamen, spontanen Fluß rhythmischer Harmonie. In ihrer Nähe standen mehrere solcher Zweiergrüppchen.
»Es ist ganz einfach. Die Arme müssen nur in ständigem Kontakt bleiben«, sagte sie und zeigte ihm, wie er die Hände halten mußte. »Sie sollten weder zu stark noch zuwenig pressen. Es sollte harmonisch, natürlich und spontan sein. Im Tuishou kommt es darauf an, daß man eine Kraft, die einen bedrängt, auflöst, bevor man zuschlägt.«
Sie war eine gute Lehrerin, fand jedoch bald heraus, daß er der Erfahrenere war. Er hätte sie schon in den ersten paar Runden aus dem Gleichgewicht bringen können, aber er genoß die Erfahrung, wie sich seine Handflächen an die ihren preßten und ihre Körper sich in einer mühelosen Anstrengung harmonisch bewegten, so sehr, daß er sie möglichst lange ausdehnen wollte.
Es war tatsächlich eine sehr intime Erfahrung – ihr Gesicht, ihre Arme, ihr Körper, ihre Gesten, die Art, wie sie sich bewegte und bewegt wurde, ihre Augen, leuchtend in seine versenkt.
Er wollte keinen zu heftigen Druck auf sie ausüben. Aber sie wurde ungeduldig und legte mehr Kraft in ihre Bewegungen. Er drehte seinen linken Unterarm, um ihren Angriff abzuwehren, indem er seinen Körper leicht zur Seite wandte. Sehr subtil ihre Kraft neutralisierend, zog er seinen Brustkorb ein, verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein und preßte ihren linken Arm nach unten. Sie beugte sich zu weit nach vorn.
Er ergriff die Gelegenheit und drängte sie zurück. Sie verlor das Gleichgewicht und stolperte vorwärts. Er fing sie in seinen Armen auf. Sie lief dunkelrot an und versuchte, sich von ihm zu lösen.
Anfangs wußte er einfach nicht, was sie von ihm hielt. Vielleicht hatte er tatsächlich einen kleinen Minderwertigkeitskomplex, doch warum sollte er glauben, daß eine hübsche, vielversprechende Reporterin, die fast zehn Jahre jünger war als er, an einem einfachen Polizisten interessiert sei? Dann erfuhr er, daß sie verheiratet war, doch diese Tatsache versuchte er zu ignorieren, denn sie war eigentlich nur auf dem Papier verheiratet.
Zwei oder drei Monate bevor Chen sie kennengelernt hatte, wollte ihr Freund, Yang Kejia, ein offiziell bewilligtes Auslandssemester in Japan einlegen. Sein Vater lag sterbenskrank im Krankenhaus. Er hauchte den beiden jungen Leuten seinen letzten Wunsch entgegen: Sie sollten sich im Rathaus um eine Heiratserlaubnis bemühen, auch wenn die Hochzeit bis nach Yangs Rückkehr aus Japan verschoben werden könnte. In seinem konfuzianischen Glauben war es ihm sehr wichtig, seinen einzigen Sohn verheiratet zu wissen, bevor er diese Welt verließ. Wang konnte ihm den Wunsch nicht abschlagen. Kurz darauf verschied ihr Schwiegervater, doch dann beschloß ihr Mann, in Japan zu bleiben und nicht mehr nach China zurückzukehren. Dies war ein schwerer Schlag für sie. Als Ehefrau hätte sie ja eigentlich Bescheid wissen müssen über das, was in Yang vorging, aber sie wußte rein gar nichts. Chen vermutete, daß der Abtrünnige seine Pläne wohl kaum bei Ferngesprächen mit seiner Ehefrau erörtert hatte, denn das Telefon konnte abgehört werden. Doch die Beamten der Inneren Sicherheit waren anderer Ansicht und verhörten Wang mehrmals.
Einige ihrer Kolleginnen waren der Meinung, es geschähe Yang recht, wenn sie sich von ihm scheiden ließe, da er sie in diese mißliche Lage gebracht hatte. Doch Chen hatte nie mit ihr darüber gesprochen. Er hatte keine Eile. Er wußte, daß er sie sehr mochte, doch er hatte sich bislang noch nicht zu einer Entscheidung durchringen können. Vorläufig freute er sich einfach, mit ihr zusammenzusein, wann immer er die Zeit dafür fand.
»Sie sind gut im Druckausüben«, sagte sie, ohne ihre Hände von seinen zu lösen.
»Nein, ich würde nie Druck auf Sie ausüben, es ist ein ganz natürlicher Fluß. Aber wenn ich es mir recht überlege«, sagte er und blickte in ihr erhitztes Gesicht, »dann würde ich Sie
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