Qiu Xiaolong
den Fluß ganz für sich allein.
Nicht der Fluß, sondern der Augenblick, in dem er beginnt, sich in deinen Augen zu kräuseln …
Er war einem Gedicht auf der Spur.
»Denken Sie wieder an Ihren Fall?«
»Nein, aber jetzt, wo Sie ihn erwähnen«, sagte er, »fällt mir ein, daß es tatsächlich einiges gibt, das ich nicht verstehe.«
»Ich bin kein Detektiv«, sagte sie. »Aber vielleicht hilft es Ihnen ja, darüber zu reden.«
Er begann, ihr den Fall zu schildern, was ihm nicht schwerfiel, auch wenn sie eine Wenhui-Reporterin war. Sie hörte aufmerksam zu. Anfangs hatte sie den Kopf leicht auf die Hände gestützt, dann beugte sie sich über den Tisch näher zu ihm hin und musterte ihn, wobei das Morgenlicht der Stadt sich in ihren Augen spiegelte.
»Das wär’s dann wohl«, sagte Chen, nachdem er die Punkte aufgezählt hatte, die er am Vortag auf der Besprechung der Sondergruppe vorgetragen hatte. »Eine Reihe offener Fragen. Sicher wissen wir nur, daß Guan am 10. Mai um etwa halb elf ihr Wohnheim verließ, um in Urlaub zu fahren. Alles, was danach passierte, ist unklar – bis auf den Kaviar.«
»Darüber hinaus haben Sie nichts Verdächtiges herausgefunden?«
»Na ja, bis auf eines. Nicht richtig verdächtig, aber ich verstehe es einfach nicht. Sie wollte in Urlaub fahren, aber keiner wußte wohin. Normalerweise ist man doch über einen bevorstehenden Urlaub so aufgeregt, daß man viel darüber spricht.«
»Das stimmt«, sagte sie. »Aber vielleicht ist ihre Zurückhaltung auch darauf zurückzuführen, daß sie ihre Privatsphäre wahren wollte?«
»Das vermuten wir auch, aber offenbar hat sie wirklich ein besonderes Geheimnis daraus gemacht. Hauptwachtmeister Yu hat bei sämtlichen Reisebüros nachgefragt, nirgendwo taucht ihr Name in den Unterlagen auf.«
»Na ja, vielleicht wollte sie ja allein verreisen.«
»Das mag schon sein, aber ich kann einfach nicht glauben, daß eine unverheiratete junge Frau ganz allein verreist. Wahrscheinlicher ist doch, daß sie mit Bekannten oder einem männlichen Begleiter verreiste. Das ist jedenfalls meine Hypothese, und dazu paßt auch der Kaviar. Außerdem hatte sie im letzten Oktober Urlaub genommen, und wir wissen auch, wohin sie damals fuhr: in die Gelben Berge. Aber ob sie alleine, mit einem Begleiter oder einer Gruppe unterwegs war, wissen wir nicht. Yu hat vergeblich versucht, mehr darüber herauszufinden.«
»Das ist wirklich merkwürdig«, sagte sie, die Augen nachdenklich halb geschlossen. »Dorthin geht kein Zug. Wenn man mit dem Bus unterwegs ist, muß man in Wuhu umsteigen, und vom Busbahnhof zu den Bergen ist es noch ein gutes Stück Weg. Und dann stelle ich es mir ziemlich schwer vor, alleine ein Hotelzimmer in den Bergen zu finden. Man spart eine Menge Geld und Kraft, wenn man mit einer Touristengruppe dorthin fährt. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.«
»Ja, und noch etwas: Aus den Unterlagen des Kaufhauses wissen wir, daß sie im letzten Herbst zehn Tage Urlaub nahm, von Ende September bis Anfang Oktober. Hauptwachtmeister Yu hat sich bei allen Hotels in den Bergen nach ihr erkundigt, doch ihr Name ist nirgends registriert.«
»Sind Sie denn sicher, daß sie dorthin gefahren ist?«
»Absolut. Sie hat ihren Kolleginnen ein paar Fotos von ihrer Reise gezeigt, und ich habe selbst eine ganze Menge Bilder in ihren Fotoalben gesehen.«
»Es gibt gewiß viele Fotos von ihr.«
»Dafür, daß sie eine hübsche junge Frau war, nicht so viele«, sagte er. »Aber einige sind auffallend gut.«
Tatsächlich wirkten einige der Fotos höchst professionell. An eines erinnerte er sich noch besonders gut: Guan lehnte an der berühmten Bergkiefer, und die weißen Wolken hinter ihr sahen aus, als wollten sie sich in ihre fließenden schwarzen Haare einnisten. Dieses Foto hätte eine Reisebroschüre als Titelblatt zieren können.
»Sind denn noch andere Leute auf ihren Fotos.’’«
»Natürlich, eine ganze Menge. Es gibt sogar eines mit dem Genossen Deng Xiaoping.«
»Und auf den Fotos von der Reise in die Berge?« fragte Wang und nahm sich mit ihren schlanken Fingern eine Traube.
»Das weiß ich nicht so genau«, sagte Chen, »aber ich glaube nicht. Das ist etwas …«
Etwas, dem er nachgehen sollte.
»Angenommen, Guan ist allein gereist«, sagte sie und schälte die Traube. »Dort hätte sie Leute kennenlernen können, die im selben Hotel wohnten wie sie, sie hätten ins Gespräch kommen und Fotos voneinander machen können …«
»Und natürlich
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