Qiu Xiaolong
es gab kein Kino, keine Bücherei, kein Restaurant, keinerlei Möglichkeit, sich zu erholen. Am Ende eines langen Arbeitstags hatten sie nur sich, sonst nichts. So verbrachten sie lange, innige Nächte miteinander. Wie viele andere ihrer Leidensgenossen begannen sie, miteinander zu leben. Doch sie heirateten nicht, und zwar nicht aus Mangel an Zuneigung, sondern allein deshalb, weil sie, solange sie als alleinstehend registriert waren, die winzige Chance hatten, nach Shanghai zurückzukehren. Die Regierung hatte nämlich beschlossen, daß sich die gebildeten lugendlichen endgültig auf dem Land niederlassen mußten, sobald sie verheiratet waren.
Sie vermißten Shanghai.
Das Ende der Kulturrevolution veränderte wieder alles. Sie konnten heimkehren. Die Politik der Landverschickung war zu Ende. Sobald sie wieder in Shanghai waren, heirateten sie. Yu »erbte« die Stellung seines Vaters, da dieser früh pensioniert worden war, Peiqin bekam eine Stelle als Kassiererin in einem Restaurant. Es war nicht das, was sie gewollt hatte, doch es erwies sich als einigermaßen einträglich. Ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes lief ihre Ehe völlig reibungslos.
Er hatte wenig Grund zur Klage. Doch manchmal dachte er tatsächlich mit so etwas wie Wehmut an ihre Zeit in Yunnan. Damals hatte er immer davon geträumt, nach Shanghai zurückzukehren, Arbeit in einem Staatsbetrieb zu finden und eine neue Karriere anzufangen, eine Familie zu gründen, ein anderes Leben zu führen. Jetzt war er an einem Punkt angelangt, an dem er sich solche Träume einfach nicht mehr leisten konnte. Er war Polizist der unteren Ebene und würde es höchstwahrscheinlich sein Leben lang bleiben. Er resignierte zwar nicht ganz, verlor aber nach und nach alle Illusionen.
Tatsache war, daß Hauptwachtmeister Yu weder über die Bildung noch über die Beziehungen verfügte, um von einem Aufstieg zu träumen. Sein Vater hatte sechsundzwanzig Jahre als Polizist gearbeitet, ohne jemals befördert zu werden, und wahrscheinlich blühte ihm dasselbe Schicksal. Damals, in seiner aktiven Zeit, hatte der Alte Jäger zumindest noch stolz sein können, Teil der Diktatur des Proletariats zu sein. Anfang der Neunziger war der Begriff »Diktatur des Proletariats« aus den Zeitungen verschwunden. Yu war einfach nur ein unbedeutender Polizist der untersten Ebene, der nur den Mindestlohn verdiente und im Präsidium wenig zu sagen hatte.
Und der vorliegende Fall führte ihm seine Bedeutungslosigkeit wieder einmal so richtig vor Augen.
»Guangming!«
Er schreckte aus seinen Grübeleien hoch.
Peiqin war allein zu ihm zurückgekehrt.
»Wo steckt Qinqin?«
»Er vergnügt sich mit ein paar elektronischen Spielen. Bevor er nicht sein ganzes Kleingeld verspielt hat, vermißt er uns nicht.«
»Schön für ihn«, sagte er. »Zumindest um ihn brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
»Was ist los?« fragte sie und setzte sich auf einen Stein neben ihn.
»Ach, eigentlich nichts«, sagte er. »Ich habe nur gerade an unsere Zeit in Yunnan gedacht.«
»Wegen des Gartens?«
»Ja«, sagte er. »Erinnerst du dich, daß Xishuangbanna auch als Garten bezeichnet wurde?«
»Ja, aber darum geht es dir doch jetzt nicht, Guangming. Ich bin lange genug deine Frau, um zu wissen, daß etwas in deiner Arbeit nicht stimmt, oder? Ich hätte dich nicht hierherschleppen dürfen.«
»Das ist schon in Ordnung.« Er strich ihr übers Haar.
Sie schwieg kurz, dann meinte sie: »Hast du Probleme?«
»Nein, nur einen schwierigen Fall. Er beschäftigt mich sehr.«
»Du bist doch gut im Lösen schwieriger Fälle, das sagen alle.«
»Na ja.«
Sie legte ihre Hand auf die seine. »Ich weiß, daß ich das nicht sagen sollte, aber ich tue es trotzdem: Wenn du nicht glücklich bist mit dem, was du tust, warum hörst du nicht einfach auf?«
Er starrte sie verwundert an.
Sie wich seinem Blick nicht aus.
»Ja, aber…« Mehr fiel ihm dazu nicht ein.
Über diese Frage würde er eine ganze Weile lang nachdenken, das wußte er sehr wohl.
»In eurem Fall gibt es also nichts Neues?« Sie wechselte das Thema.
»Nicht viel, nein.«
Yu hatte den Fall ihr gegenüber erwähnt, obwohl er daheim nur selten über seine Arbeit sprach. Verbrecher zu jagen konnte schwierig und gefährlich sein – es brachte nicht viel, im Kreis der Familie darüber nachzusinnen. Außerdem hatte Chen ja immer wieder darauf hingewiesen, wie heikel der Fall war. Es hatte also weniger mit Vertrauen als vielmehr mit seinem beruflichen
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