Qiu Xiaolong
wie verwandelt von der Pracht des Gartens; eifrig verglich sie die Kammern, steinernen Pavillons und mondförmigen Pforten mit den Bildern ihrer Phantasie. Als er sie so beobachtete, kam es ihm fast vor, als gehörte sie in jene Zeit, und er erwartete jeden Moment, Baoyu, den jungen, stattlichen Helden des Romans, aus dem Bambushain herausspazieren zu sehen.
Sie nutzte die Gelegenheit, um ihr Wissen über die klassische chinesische Kultur mit Qinqin zu teilen. »In deinem Alter kannte Baoyu schon die vier konfuzianischen Klassiker auswendig.«
»Die vier konfuzianischen Klassiker?« fragte Qinqin. »Von denen habe ich in der Schule noch nie etwas gehört.«
Nachdem es ihr nicht gelungen war, in ihrem Sohn die erhoffte Begeisterung zu wecken, wandte sie sich an ihren Mann. »Sieh mal, das muß der Fluß sein, in dem Daiyu die herabgefallene Blüte bestattet hat«, rief sie aus.
»Daiyu bestattet ihre Blumen?« fragte er. Er wußte überhaupt nicht, wovon sie sprach.
»Erinnerst du dich an Daiyus Gedicht? Heute bestatte ich die Blüte, doch – wer schafft morgen meinen Sarg hinaus?«
»Ach ja, dieses sentimentale Zeug.«
»Guangming«, sagte sie, »du bist mit deinen Gedanken nicht hier in diesem Garten.«
»Nein, nein, ich finde es wirklich sehr schön hier«, versicherte er ihr. »Aber es ist schon so lange her, daß ich den Roman gelesen habe. Wir waren damals noch in Yunnan.«
»Was sollen wir uns als nächstes anschauen?«
»Ehrlich gesagt bin ich etwas müde«, sagte er. »Wie wär’s, wenn du dir mit Qinqin schon mal den Innengarten ansiehst und ich hier noch ein bißchen sitzen bleibe und meine Zigarette zu Ende rauche? Ich komme dann nach.«
Er sah den beiden nach. Peiqin führte Qinqin in den hübschen kleinen Innengarten, als bewege sie sich in ihrem eigenen Heim.
Er war nicht Baoyu, er war einfach nicht fürs Heldendasein geschaffen. Er war der Sohn eines Polizisten und selber nur ein einfacher Polizist. Yu drückte die Zigarette mit dem Absatz aus. Er bemühte sich ja, seine Arbeit gut zu machen, aber es fiel ihm zunehmend schwer.
Peiqin war anders. Nicht daß sie sich jemals beklagte – eigentlich war sie vollkommen zufrieden. Als Kassiererin in einem Restaurant verdiente sie recht gut, mit einigen Zulagen kam sie auf etwa fünfhundert Yuan im Monat. Sie arbeitete dort in einer kleinen Nische, mußte sich also nicht mit den Gästen herumschlagen. Und ihr Heim war zwar nicht sehr geräumig, doch es lief alles reibungslos und zu ihrer vollsten Zufriedenheit, das hatte sie ihm oft genug versichert.
Sie hätte aber auch ein ganz anderes Leben führen können, das wußte er genau. Sie hätte auch eine Daiyu oder eine Baochai sein können, eines dieser zwölf wunderschönen, begabten Mädchen aus dem romantischen Roman. Sie finden die romantische Bestimmung, die ihnen das Schicksal zugedacht hat.
Er wollte sich noch eine Zigarette anzünden, doch die Packung war leer. Eine verknitterte Schachtel der Marke Päonie. Seine Monatsration bestand aus fünf Packungen Markenzigaretten, also »Päonie« oder »Große Mauer«, und diese waren jetzt aufgebraucht. Er holte aus seiner Jackentasche ein metallenes Etui, in dem er ein paar Selbstgedrehte aufbewahrte, die er Peiqin verheimlichte; denn sie machte sich Sorgen, daß er zuviel rauchte.
Sie kannten sich schon seit ihrer Kinderzeit. Spielgefährten auf Bambuspferden /sie jagen einander, pflücken grüne Pflaumenblüten. Doktor Xia hatte diesen Zweizeiler aus Li Bais »Zhanggan-Lied« zu Yus und Peiqins Hochzeit auf zwei rote Seidenbänder übertragen.
Doch so unschuldig und romantisch war es in ihrer Kindheit nicht zugegangen. Peiqins Familie war Anfang der sechziger Jahre in Yus Viertel gezogen, und so hatten sie gemeinsam die Grundschule und anschließend die Mittelschule besucht. Damals hatten sie sich eher gemieden. Die sechziger Jahre waren in China eine revolutionäre und doch auch sehr puritanische Zeit gewesen; Jungen und Mädchen gingen in der Schule getrennte Wege.
Dazu kam noch der bürgerliche Hintergrund von Peiqins Familie: Ihr Vater hatte vor 1949 eine Parfümfabrik besessen; Ende der Sechziger war er dann aus nicht näher erläuterten Gründen in ein Arbeitslager geschickt worden und dort gestorben. Ihre Familie war aus der stattlichen Villa im Stadtbezirk Jing’an vertrieben worden und mußte in eine Mansarde in Yus Viertel ziehen. Damals war sie alles andere als eine stolze Prinzessin gewesen – ein schmales, schwächliches
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