Qiu Xiaolong
einem Polizeimercedes vor einem Restaurant vorfährt«, meinte sie.
Das Essen wurde gebracht, was ihn daran hinderte, etwas Passendes zu erwidern.
Die Nudeln entsprachen seiner Erwartung. Das Zwiebelgrün in der Suppe duftete wundervoll. Auch ihr mundete das Essen; sie wischte sich mit einer rosafarbenen Papierserviette den Schweiß von der Stirn.
Nach dem Essen kaufte er an der Theke eine Schachtel Kent.
»Nicht für mich«, erklärte er ihr.
Er überreichte dem Kleinen Zhou die Zigaretten.
»Danke, aber das wäre nicht nötig gewesen, Genosse Oberinspektor«, sagte der Kleine Zhou. »Übrigens, haben Sie schon gehört, Polizeipräsident Zhao wird Ende des Jahres in Pension gehen.«
»Nein, das wußte ich nicht. Danke für diese Information.«
Auf der Rückbank saßen sie eng nebeneinander. Er spürte ihre Nähe und genoß die Berührung ihrer Schultern, wenn der Wagen wieder einmal über ein Schlagloch holperte. Sie redeten nicht viel. Sie ließ es zu, daß er ihre Hand nahm. Der Wagen fuhr an der schwarzen Kuppel des neuen Stadions vorbei in Richtung Friedenspark. Der Kleine Zhou erläuterte ihnen, warum sie diesen Umweg machen mußten. Mehrere Straßen waren vor kurzem zu Einbahnstraßen erklärt worden.
Ihre Fahrt verlängerte sich dadurch, doch Oberinspektor Chen sah keinen Grund zur Klage.
Da bat Wang den Kleinen Zhou auch schon, an die Seite zu fahren. Sie waren bei der Fabrik angekommen, über die sie einen Bericht schreiben sollte.
»Danke, daß Sie mich hierhergebracht haben«, sagte sie.
»Ich danke Ihnen«, sagte er, »dafür, daß Sie mir Gelegenheit gaben, Sie hierherzubringen.«
Als sie wieder an der Bibliothek anlangten, war es bereits halb vier. Er schickte den Kleinen Zhou ins Präsidium zurück, da er keine Ahnung hatte, wie lange er zur Bearbeitung der neuen Liste brauchen würde.
Die Liste war sehr umfangreich. Sie umfaßte die einflußreichsten Zeitschriften und Zeitungen samt den jeweiligen Erscheinungsdaten und relevanten Seiten. Daneben war noch eine Reihe von Auszeichnungen aufgeführt, die Wu erhalten hatte. Drei Stunden Lektüre machten ihm einiges klar: Wu Xiao-ming war offenbar ein sehr produktiver Fotograf mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen in den größten Zeitschriften, aber auch in zweit- oder drittklassigen Journalen. Wus Themen waren ebenfalls breitgefächert, konnten aber in zwei Kategorien aufgeteilt werden.
Da waren zum einen die »politischen« Fotos. Durch seinen familiären Hintergrund hatte Wu Zugang zu einer Reihe einflußreicher Persönlichkeiten, die nichts dagegen hatten, daß ihre Fotos veröffentlicht wurden. Solche Bilder zeigten, daß sie noch immer an der Macht waren, und auch Wus Karriere profitierte davon.
Zum anderen gab es die »künstlerischen« Fotos, die eine bemerkenswerte Könnerschaft aufwiesen. Es zeigte sich immer wieder ein bestimmtes Arrangement: Häufig war eine ganze Serie von Fotos von einer bestimmten Person abgebildet, die Wu aus verschiedenen Blickwinkeln heraus aufgenommen hatte.
Eine solche thematische Sequenz gab es zum Beispiel auch von Guan in der Xingming Abendpost: Guan bei der Arbeit, bei Versammlungen, zu Hause. Ein Foto zeigte sie beim Kochen. Sie trug eine bestickte Schürze und scharlachrote Hausschuhe und briet gerade einen Fisch; auf ihren Brauen standen Schweißtropfen. Die Küche war offenbar nicht die ihre – sie war hell und geräumig, und über dem Waschbecken befand sich ein hübsches, halbrundes Fenster. Als Gegengewicht zu den anderen Fotos der Serie stellte dieses Foto die weiche, weibliche Seite der nationalen Modellarbeiterin heraus.
Die meisten Menschen, die sich von Wu Xiaoming hatten fotografieren lassen, waren in ihren Branchen ziemlich bekannt. Besonders gut gefiel Chen eine Sequenz mit Huang Xiaobai, einem berühmten Kalligraphen. Die Fotos zeigten Huang, wie er die verschiedenen Striche malte, aus denen das chinesische Schriftzeichen zheng gebildet wurde – ein horizontaler Strich, ein Punkt, ein schräger Strich, ein vertikaler Strich, so, als ob jeder von ihnen eine unterschiedliche Phase in seinem Leben darstellte; alle zusammen bildeten schließlich das Schriftzeichen mit der Bedeutung »aufrichtig«.
Eine Sequenz mit Jiang Weihe, einer jungen, aufstrebenden Künstlerin, die Chen auch persönlich kannte, verblüffte ihn. Jiang trug einen kurzen Overall und stand mit nackten Beinen da, völlig vertieft in die Wirkung eines ihrer Werke, die Statue eines nackten Fotografen, dessen
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