Qiu Xiaolong
Blöße nur durch seine Kamera verhüllt wurde und der sie anblickte. Der Titel lautete »Schöpfung« – eine sehr originelle Komposition.
Neben solchen Fotos gab es auch viele Modeaufnahmen. Die meisten Modelle waren junge, hübsche Mädchen. Fotos von halb- oder gänzlich nackten Modellen waren in China nicht mehr der Zensur unterworfen, doch nach wie vor ziemlich umstritten. Chen wunderte sich über Wus ungewöhnlichen Vorstoß auf diesem Gebiet.
In einer kleinen Provinzzeitschrift, die den Titel Blumenstadt trug, sah Chen das Foto einer schlafenden Nackten. Sie lag auf der Seite; ihr weicher Körper mit all seinen Kurven schien mit dem Hintergrund des weißen Lakens und der weißen Wände zu verschmelzen. Der einzige Akzent, der aber die Wirkung noch unterstrich, war ein schwarzes Muttermal auf ihrem Nacken. Irgendwie kam ihm die Frau auf diesem Foto bekannt vor, obwohl ihr Gesicht nicht zu sehen war. Dann erinnerte er sich. Stirnrunzelnd legte er die Zeitschrift weg.
Als die Bibliothek schloß, war Chen mit seiner Recherche noch nicht fertig. Er lieh sich ein Exemplar der Blumenstadt aus. Die Bibliothekarin war sehr entgegenkommend, sie bot ihm an, die anderen Zeitschriften für ihn aufzubewahren, damit er sich am nächsten Tag gleich wieder an seine Arbeit machen könnte. Er dankte ihr, war sich allerdings nicht sicher, ob er es sich leisten könnte, einen weiteren Tag in der Bibliothek zu verbringen. Außerdem hatte er Mühe, sich zu konzentrieren. Etwas an der Atmosphäre hier lenkte ihn ab. Vielleicht war es aber auch etwas aus seinem Unbewußten. Aber Oberinspektor Chen wollte nicht in sich gehen, nicht jetzt, wo er so mit diesem Fall beschäftigt war.
Vielleicht stand er nun vor dem ersten richtigen Durchbruch seiner Ermittlungen. Doch es stimmte ihn nicht froh. Die Tatsache, daß Wu Xiaoming mit der Sache zu tun hatte, würde Folgen haben, mit denen Chen nicht gerechnet hatte.
Er mußte sich direkt mit Wu auseinandersetzen.
Und sehr wahrscheinlich mit Wu als einem Vertreter der HKK, der Hohen-Kader-Kinder, auch bekannt als Prinzlinge, die Kinder des kommunistischen Erbadels.
Von seinem Büro aus rief er Wang an. Zum Glück war sie noch an ihrem Arbeitsplatz.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Keine Ursache.« Wangs klare Stimme klang ganz nah. »Und, kommen Sie voran?«
»Ja, schon«, sagte er. »Sind Sie allein in Ihrem Büro?«
»Ja, ich muß noch einen Artikel fertigmachen«, sagte sie. »Aber ich habe auch noch einiges über Ihren Verdächtigen herausgefunden, obwohl Sie inzwischen sicher schon eine Menge über ihn wissen.«
»Was denn?«
»Offiziell ist Wu nur ein Mitarbeiter des Roten Stern in Shanghai. Doch vielleicht ist er darüber hinaus noch weitaus bedeutender. Wie jeder weiß, ist der Rote Stern die Hauszeitschrift des Zentralkomitees der Partei. Das heißt also, er steht in direktem Kontakt mit einigen Leuten in der Parteispitze. Außerdem hat er dort zweifellos enge Beziehungen, wenn er immer wieder Fotos von diesen Leuten macht.«
»Das habe ich auch schon vermutet.«
»Daneben sind aber noch weitere Gerüchte im Umlauf: Angeblich soll er in eine neue Stellung aufsteigen – zum Kulturminister von Shanghai.«
»Wie bitte?«
»Ja, die Leute sagen, Wu sei ›rot und Experte‹ – er ist jung, begabt und hat auf einer Abendhochschule studiert. Übrigens steht er auch auf der Teilnehmerliste für das Seminar, das Sie besuchen sollen.«
»Na ja, da gibt es doch ein altes Sprichwort: ›Feinde müssen sich auf einem engen Pfad begegnen. Darüber mache ich mir keine Sorgen, nur…«
»Nur – wo liegt das Problem?« Sie hatte den wunden Punkt sofort erkannt.
»Na ja, sagen wir mal so: Bei einer kriminalistischen Ermittlung ist das Motiv ein wichtiger Punkt. Die Leute müssen einen Grund haben für das, was sie tun. Und dieser Grund entzieht sich bislang meiner Kenntnis.«
»Ohne ein Motiv kommen Sie also in Ihren Ermittlungen nicht weiter?«
»Ja, genau«, sagte er. »Die Umstände mögen auf Wu deuten, aber es gibt keine einleuchtende Erklärung für eine solche Tat.«
»Vielleicht sollten wir uns noch einmal im Riverside bei einer Tasse Kaffee über den Fall unterhalten«, meinte sie.
»Nein, lieber bei mir zu Hause, morgen abend«, sagte er. »Sie haben doch meine Einladung nicht ausgeschlagen, oder?«
»Feiern Sie etwa schon wieder ein Fest?«
»Nein, ich hatte nur an uns beide gedacht.«
»Bei romantischem Kerzenschein?«
»Wenn es einen Stromausfall
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