Quade 01 - Verzaubert von deinen Augen
kleine Mädchen seufzte. »Ach,
das ist nicht nötig. Ich habe von Tante Persephone genug gelernt«, entgegnete
sie gelangweilt. »Ich kann Bücher lesen und rechnen. Ich spiele sogar auf dem
Spinett.« Sie streckte einen kleinen Fuß aus, der in einem Samtpantoffel
steckte, und bewegte ihn anmutig. »Es wird allerdings leichter für mich sein,
wenn ich an die Pedale reiche«, fügte sie stirnrunzelnd hinzu. Aber dann hellte
ihr Gesicht sich wieder auf. »Können Sie angeln, Miss Quade?« fragte sie mit
einem hoffnungsvollen Blick auf Lydia.
Lydia lachte und setzte sich auf die
Bettkante. »Ja. Während meiner Kindheit in Massachusetts war ich oft mit meinem
Vater angeln. Ich habe sogar immer mehr Forellen gefangen als er.«
Millie wirkte erfreut, aber dann
verblaßte ihr Lächeln. »Konnte Ihr Vater Sie gut leiden?« erkundigte sie sich
schüchtern.
Ein heftiger Ärger auf Brigham Quade
stieg bei diesen Worten in Lydia auf. »Ja«, erwiderte sie sehr sanft. »Ich
glaube schon. Und dein Vater? Mag er dich?«
»Papa hat viel in seinem Sägewerk zu
tun«, entgegnete Millie traurig. »Und ich kann mir nicht vorstellen, daß er
mich besonders interessant findet. Jedenfalls bestimmt nicht so sehr wie die
Frau, die er manchmal in Seattle besucht.«
Lydia spürte, wie eine heiße Röte in
ihre Wangen stieg. Rasch nahm sie Millies Hand. »Ich finde dich, sehr
interessant«, sagte sie entschieden, und tatsächlich war Millie Quade eines der
aufgewecktesten Kinder, denen sie je begegnet war. »Vielleicht könnten wir
beide Freundinnen werden?«
»Vielleicht«, stimmte Millie
nachdenklich zu. »Ich habe natürlich Charlotte, meine Schwester, aber Freundin
kann man sie nicht nennen, weil sie mich manchmal überhaupt nicht leiden mag.
Und Tante Persephone tun die Knochen weh, wenn es regnet, und deshalb verbringt
sie die meiste Zeit in ihrem Zimmer.«
Mitleid mit diesem Kind durchzuckte
Lydias Herz. Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, wie einsam dieses
große, ele-
gante Haus sein konnte, das mitten
in diesem wilden, zum größten Teil noch unbesiedelten Gebiet stand. »Gibt es
keine anderen Kinder in Quade's Harbor?« fragte sie.
Millie zuckte mit den Schultern.
»Nur Indianer, und Tante Persephone läßt uns nicht mit ihnen spielen, weil sie
Läuse haben.« Sie beugte sich vor und flüsterte Lydia vertraulich zu: »Und sie
benutzen auch keinen Nachttopf!«
Lydia verkniff sich ein Lächeln.
»Ach, du liebe Güte!« erwiderte sie, als teilte sie Millies Schock über diese
Entdeckung.
»Aber was ist mit den Holzfällern?«
fragte sie dann. »Haben sie denn keine Kinder?« Sie erinnerte sich an die Reihe
solider kleiner Wohnhäuser, die sie bei ihrer Ankunft in Quade's Harbor
gesehen hatte. Sie war verblüfft gewesen, wie sehr die Stadt den schon viel
länger besiedelten Dörfern im Osten ähnelte.
Millie schüttelte den Kopf. »Die
meisten haben keine Familien, und wenn doch, dann wollen sie nicht herkommen.«
Lydia setzte gerade zu einer
Entgegnung an, als sie ein leises Rascheln in der offenen Tür ihres Zimmers
vernahm. Eine zier-
liche weißhaarige Dame stand auf der
Schwelle und musterte sie prüfend. Das muß Tante Persephone sein, dachte Lydia.
Trotz Millies Bemerkung, daß die alte Dame häufig an Knochenschmerzen litt,
sah sie nicht so aus, als hätte sie auch nur einen Tag in ihrem Leben im
Krankenbett verbracht.
Lydia stand auf und strich ihre
Röcke glatt. »Guten Tag«, sagte sie. »Ich bin Lydia McQuire — die neue
Gouvernante.«
Die vornehme alte Dame in dem
dunkelblauen Kleid neigte den Kopf. »Ja«, stimmte sie in nachdenklichem Ton zu.
»Die Gouvernante. Ich bin Persephone Chilcote. Brigham und Devon sind meine
Neffen.« Der freundliche, majestätische Blick glitt zu dem Kind auf dem Bett.
»Millicent, komm sofort vom Bett herunter! Man dringt nicht in anderer Leute
Zimmer ein und beschmutzt ihre Bettdecke mit seinen Füßen.«
Millie gehorchte widerspruchslos und
stürmte in einem Anfall erstaunlicher Energie auf den Korridor hinaus. »Charlotte!«
hörte Lydia sie dort rufen. »Im Hafen liegt ein Schiff, das dich nach China
bringen wird! Papa hat dich an eine Bande von Räubern mit langen Schnurrbärten
verkauft!«
Mistress Chilcote verdrehte die
Augen, aber ihr Gesichtsausdruck blieb sanft. »Ich tue, was ich kann«, seufzte
sie, »aber ich fürchte, daß meine Großnichten zu wild geworden sind für eine
alte Frau wie mich.«
Lydia dachte, daß vermutlich nicht
einmal eine ganze
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