Quade 01 - Verzaubert von deinen Augen
fortgehen könnte.
Sie aßen im Speisesaal des Hotels
und machten sich dann auf den Weg zu Yesler's Hall.
Charlottes melancholische Stimmung
vertiefte sich, als sie die arme Kreatur erblickte, die auf einem umgekippten
Waschzuber herumtapste. Der Bär trug ein verschlissenes rotes Lederband um den
Hals, sein Fell war an einigen Stellen so abgewetzt, daß nur noch blanke Haut
zu sehen war. Auf einen Befehl seines Dompteurs hin öffnete der Bär das Maul
und >sprach<, und Charlotte sah, daß er nicht einen einzigen Zahn besaß.
Sie wandte den Kopf ab und legte
ihre Wange auf den Arm ihres Vaters.
Er strich ihr über das Haar. »Schon
gut, Charlie«, flüsterte er ihr zu. »Niemand tut dem Bären weh.«
Charlotte kamen die Tränen. Es war
nicht der Auftritt des Tiers an sich, was sie bedrückte, sondern sein Mangel an
Freiheit und an Würde. Er hätte durch die hohen Berge, durch die dichten Wälder
ziehen sollen, im Sommer auf der Jagd und in der kalten Jahreszeit in einer
warmen Höhle, in der er überwintern konnte .
»Darf ich hinausgehen?«, fragte sie
leise.
Brigham überlegte kurz, dann nickte
er. »Bleib in der Nähe. Das Postboot legt in einer Stunde an, dann fahren wir
nach Hause.«
Charlotte nickte und eilte, nach
einem letzten mitfühlenden Blick auf den Bären, auf die offene Tür zu.
Die hochaufragenden Maste der Enchantress zogen sogleich wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich und lenkten ihre Gedanken
von dem Bären ab. Der Liegeplatz des Schiffes war nicht weit von der Stelle
entfernt, an der sie stand — sie konnte hingehen und sich den Klipper ansehen,
bevor die anderen Yesler's Hall verließen ...
Minuten später stand Charlotte am
Fuß der schmalen Rampe und schaute staunend zu dem schnellen Segler auf. Sie
vermutete, daß er schon in China und Hawaii gewesen war, vielleicht sogar in
Europa und Australien. Mit geschlossenen Augen stellte sie sich vor, wie sie an
der Reling stand und fremde, exotische Orte am Horizont auftauchen sah.
Eine merkwürdige Erregung machte
sich in Charlotte breit. Falls sich jemand auf dem Schiff aufhielt, war er
nicht zu sehen, und ein Blick über ihre Schulter verriet, daß auch am Kai niemand
war, der ihr besondere Beachtung schenkte.
Sie begann die Rampe hinaufzugehen,
dann stand sie an Deck. Es schwankte leicht unter ihren Füßen, das Schiff, aber
Charlotte gefiel dieses Gefühl. Sie stellte sich vor, auf dem Weg nach London
zu sein, um Tee mit der Queen zu trinken.
»Hallo?« rief sie, während die
salzhaltige Brise an ihren Taftröcken zerrte.
Niemand antwortete. Charlotte legte
den Kopf in den Nacken, um zum Hauptmast und dem Netz aus Tauen aufzuschauen.
Ein überwältigendes Verlangen, von dort oben in die Ferne zu sehen, erfaßte
sie, und sie begann zu klettern. Plötzlich war sie Jungfer Marian, die sich
anschickte, ein Netzwerk aus Weinranken zu überwinden, um Robin Hood vor einer
tödlichen Falle des Sheriffs von Nottingham zu warnen.
Das Gefühl von Macht, von Freiheit,
war berauschend. Charlotte legte den Kopf zurück, klammerte sich an den Seilen
fest und ließ den Wind durch ihr hellbraunes Haar fahren. Höher und höher
kletterte sie, bis sie Farmen und Indianerhütten im dichten Wald erkennen
konnte.
»Hey!« schrie eine Stimme. »Da oben!
Was machst du da?« Charlotte schaute hinunter, was ein Fehler war, denn plötzlich
erschien ihr die Entfernung zum Deck des Schiffes unüberwindlich weit. Ein
junger Mann mit langem dunklem Haar, enganliegenden Hosen und einem weiten
Seemannshemd stand unten und schaute sichtbar verärgert zu ihr auf. Charlotte
schluckte, ihre Hände erstarrten um die Taue. Sie war plötzlich überzeugt, daß
nichts mehr ihren Sturz in die Tiefe verhindern konnte, so hart sie die Seile
auch umklammern mochte.
»Helfen Sie mir«, sagte sie, aber
die Worte waren nur ein Flüstern, das der Mann auf dem Deck unmöglich gehört
haben konnte.
Dennoch spürte Charlotte eine
Bewegung in den Seilen, und als sie wieder hinzusehen wagte, sah sie ihn flink
wie eine Spinne in ihrem Netz zu ihr hinaufklettern.
Bald schon war er neben ihr. »Komm,
kleines Mädchen«, sagte er mit aufreizender Freundlichkeit. »Ich bringe dich
hinunter.«
Charlotte befeuchtete ihre spröden
Lippen. »Sind Sie der Kapitän des Schiffes?« erkundigte sie sich mit zitternder
Stimme, weil sie etwas sagen mußte,
um nicht in Panik zu geraten und vor Angst zu kreischen wie eine Säge, die
sich in einen Baumstamm fraß.
Mit seinem dunklen Haar, das
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