Quade 01 - Verzaubert von deinen Augen
Lydia eine Haarsträhne aus der Stirn strich.
Sie schloß die Augen und umklammerte
so hart die Reling, daß ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
Dann nahm sie sich zusammen, schaute
ihn an und versuchte, die zwischen ihnen aufgetretene Spannung mit einem
Scherz zu lockern. »Falls ich je auf die Idee käme, zu heiraten, wüßte ich
jetzt, wo ich einen Mann finden kann«, sagte sie in Erinnerung der männlichen
Aufmerksamkeit, die sie in Seattle erfahren hatte.
Der Humor in Brighams Augen
verblaßte und wich einem ärgerlichen Funkeln. Er schien etwas sagen zu wollen,
überlegte es sich jedoch anders und wandte sich zum Gehen.
»Was hat er?« fragte Millie. »Er
sieht richtig wütend aus.« Lydia beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch:
»Das ist er auch. An deiner Stelle würde ich mich von ihm fernhalten.«
Millie nickte und schlenderte zur
anderen Seite des Boots hinüber. Charlotte stand an der Reling und schaute mit
ihrem üblichen geistesabwesenden Gesichtsausdruck zum Hafen hinüber.
Lydia zögerte, weil sie nicht sicher
war, ob das junge Mädchen Gesellschaft wünschte. »Charlotte?« Lydia bot ihr
von den Karamellbonbons an, die sie in Seattle gekauft hatte. »Ein Bonbon für
deine Gedanken.«
Charlotte bedachte Lydia mit einem
verträumten Lächeln. »Hast du dir auch schon einmal so heftig ein Abenteuer
gewünscht, daß du glaubtest, verrückt zu werden?«
Lydia dachte an ihre eigene
Kindheit. Nein, da war nicht viel Zeit gewesen für Träume und Illusionen, nicht
bei ihrem Vater, der kaum genug verdiente, um sie beide zu ernähren, und seine
Einsamkeit und Enttäuschungen in Whiskey ertränkte. »Eigentlich nicht«,
erwiderte sie aufrichtig, »aber ich weiß, wie du dich fühlst. Du kannst es kaum
erwarten, endlich erwachsen zu sein, nicht wahr?«
Das Mädchen nickte, und Lydia fiel
zum ersten Mal auf, zu welch atemberaubender Schönheit Charlotte heranwuchs,
mit ihren großen, glänzenden Augen, den hoch angesetzten Wangenknochen und dem
goldbraunen Haar. Und wieder fragte sie sich, wie die Mutter dieses Mädchens
gewesen sein mochte.
Brighams Frau.
»Ich komme mir vor wie dieser Bär in
Yesler's Hall«, sagte Charlotte. Ihr Blick ruhte noch immer auf dem großen
Segelschiff, das im Hafen lag. »Etwas zum Anstarren und Herumkommandieren.«
Lydia legte ihr tröstend einen Arm
um die Schultern. »Du bist dabei, zu einer Frau heranzuwachsen, Charlotte, und
das ist wundervoll und aufregend, aber es hat auch seine Schattenseiten.«
Charlotte warf ihr einen dankbaren
Blick zu, dann runzelte sie die Stirn. »Das wahrscheinlichste ist, daß ich
irgendeinen Holzfäller heiraten und in einem der sechs kleinen Häuser leben
werde.«
Der Gedanke, an einem so friedlichen
und aufstrebenden kleinen Ort wie Quade's Harbor ein Heim zu gründen, wirkte
auf Lydia sehr verlockend, aber Charlotte war noch sehr jung und ruhelos. Ihre
Stimmungen wechselten beständig, was auf die Veränderungen in ihrem Körper
zurückzuführen war. Zweifellos erinnerte sie sich an ihre Mutter, was bei
Millie nicht der Fall war, und vermißte sie.
»Du brauchst nicht zu heiraten, wenn
du es nicht willst«, versicherte Lydia ihr, obwohl sie sich dessen gar nicht
sicher war. In vielen Dingen war Brigham ein sehr altmodischer Mann, und es
bestand die Möglichkeit, daß er es als sein Recht betrachtete, seiner Tochter
einen Mann zu suchen, sobald die Zeit gekommen war.
Das Boot tuckerte weiter, und
Charlotte ging zu Millie, die auf den Kisten mit den Vorräten hockte. Lydia
lächelte, als sie sah, wie das Mädchen zwei Orangen aus einer der Kisten stibitzte.
Es war noch hell, als das Boot
anlegte, aber zu Lydias Erstaunen befand Devon sich nicht auf seiner
Baustelle, und sie fragte sich, ob Polly Quade's Harbor noch vor ihnen erreicht
haben mochte. Vielleicht hatten die beiden Liebenden sich längst versöhnt...
Mister Harrington, Brighams
Buchhalter, kam den Hügel herabgestürmt. »Mister Quade!« schrie er schon von
weitem. »Mister Quade!«
»Was ist denn, Harrington?« rief
Brigham gereizt und setzte mit einem Sprung über die Reling, bevor das Boot am
Kai vertäut war. »Was soll das Geschrei?«
Der arme Harrington war völlig außer
Atem. »Mister Devon hat einen Unfall gehabt«, stieß er keuchend hervor. »Er ist
gestürzt, als er gestern in den Wäldern arbeitete ... Ich fürchte, er ist schwer
verletzt.«
Lydia schwankte und schaute hilflos
zu, wie alles Blut aus Brighams Wangen wich. Dann packte er den
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