Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
reise
ab! Ich reise sofort ab! Aber nicht nach Wien! Ich gehe zurück zu meinen Eltern.«
Philipp
grinste. Na bitte! Manche Dinge erledigten sich von selbst.
Er hörte
sie wegrennen. Türen knallten. Allmählich entspannte er sich. Ja, es gelang ihm
sogar, sich in den Sportteil der Zeitung zu vertiefen. Und dann entdeckte er einen
Artikel über die Dreharbeiten in der Lagune von Venedig. Ergänzend gab es ein Interview
mit Regisseur Adi Bender. Als er lesend eine Viertelstunde oder vielleicht sogar
20 Minuten auf dem WC verbracht hatte, hörte er, wie die Haustür zugeworfen wurde.
Plötzlich war er wie elektrisiert. Hatte Vera ihn wirklich verlassen? Ein schmerzhafter
Stich, dann Panik. Mit zitternden Händen säuberte er sich den Hintern, spülte hektisch,
zog die Hose rauf und rannte durchs Appartement. Nirgendwo eine Spur von ihr. Dann
ins Schlafzimmer. Chaos. Der Kleiderschrank war komplett ausgeräumt, seine Sachen
lagen auf dem Boden, ihre fehlten. Genauso wie ihr Reisekoffer. Eine letzte Hoffnung
trieb ihn ins gemeinsame Badezimmer. Doch auch hier: gähnende Leere, wo noch vor
einer halben Stunde ihre Kosmetik- und Schminksachen gestanden hatten. Vera war
weg. Er sank in die Knie, setzte sich und lehnte sich an den Badewannenrand. Einerseits
ein Gefühl von Erleichterung. Sie war weg, Venedig konnte ihr nicht mehr schaden.
Aber, und vor diesem Gedanken graute ihm, war das auch das Ende ihrer Ehe? Seine
Augen wurden feucht. Er stand auf, ging ins Wohnzimmer, griff zitternd zu seinem
Handy und wählte ihre Nummer. Es läutete mehrmals, plötzlich war die Leitung tot.
Er drückte auf Wahlwiederholung und kam nun sofort in ihre Sprachbox. Sie hatte
das Handy abgedreht. Scheiße. Er legte sich auf die Couch im Wohnzimmer, schloss
die Augen und ließ die Tränen fließen.
Später,
als er sich beruhigt, geduscht und rasiert hatte, gelangte er allmählich zu der
Überzeugung, dass das so im Moment wohl das Beste sei. Er machte sich fertig für
den Arbeitstag, und da stach ihm wieder die widerliche Schlagzeile mit dem Snuff-Porno
ins Auge. Augenblicklich begann der Kaffee in seinem Magen zu brennen. Ein säuerliches
Gefühl kroch seine Speiseröhre hoch. Kurz wurde ihm schwindlig. Dann griff er zu
seinem Handy und wählte.
»Hallo? Herr Severino? Buon giorno! Haben Sie
das mit dem Snuff-Porno gehört? Ist das möglich? Was meinen Sie? Wir müssen uns
sofort treffen.«
Zweiundzwanzig
Das war nicht Adi Benders Tag. Zuerst
waren die Filmmuster, die er sich ansah, einfach nicht so, wie er sich das vorgestellt
hatte. Okay, sie waren nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Vom Hocker
hatten sie ihn nicht gerissen, die Szenen, die sie draußen in der Lagune gedreht
hatten. Der Produzent und die Dreifaltigkeit, wie er die Abgesandten der drei beteiligten
TV-Anstalten nannte, waren hingegen mit den Mustern zufrieden. Ganz klar, denen
ging es nur um’s Geld. Eine Wiederholung des aufwendigen Drehs wollten sie unter
allen Umständen vermeiden. Ihm, Adi Bender, ging es aber um die Kunst. Und vom künstlerischen
Standpunkt betrachtet waren die Muster suboptimal. Nein, nicht wirklich scheiße,
aber auch lange nicht so brillant, wie er sich das vorgestellt hatte. Nachdem sie
den halben Tag darüber diskutiert hatten, hatte er sich frustriert in sein Hotelzimmer
zurückgezogen. Da ein langer Nachtdreh anstand, versuchte er etwas zu schlafen.
Daran war aber nicht zu denken. Er wälzte sich hin und her, und all die Sorgen,
die ihn belasteten, hockten fett auf seiner Brust und grinsten höhnisch. Eine Sorge
hieß Mühleis. Einerseits spukte der tote Knabe ständig durch seine Gedanken und
andererseits war Philipp Mühleis als Aufnahmeleiter und Mitarbeiter nahezu unbrauchbar
geworden. Dauernd unterliefen ihm Fehler, dauernd war er nicht rechtzeitig da oder
plötzlich verschwunden. ›A pain in the ass‹, würden die Amis sagen. Und als er das
dachte, begannen ihm prompt seine Hämorrhoiden zu schmerzen. Scheißjob, dauernd
herumsitzen. Und dann das ungesunde Essen. Dazu viel zu viel Alkohol. Bender sehnte
sich zurück nach Wien. Nach der aufopfernden Fürsorge seiner Mutter. Nach der herrschaftlichen
Villa in Döbling, die sie gemeinsam bewohnten. Nach einem geordneten, ruhigen Leben.
Und dann dachte er wieder an Philipp Mühleis’ entzückenden, wohlerzogenen Sohn.
Adi Bender bekam plötzlich Magenkrämpfe. Die Spaghetti, die er während der Besprechung
hinuntergeschlungen hatte, wollte sein Magen plötzlich nicht
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