Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
nächsten Morgen erwachte Marco
auf der Wohnzimmer-Couch allein. Gut zugedeckt, aber allein. Er erinnerte sich,
dass heute Sonntag war und dass seine Mutter am Sonntag in einem Hotel drüben in
San Marco den Frühdienst im Frühstücksraum machte. Ein Nebenjob, der von sieben
bis elf Uhr dauerte und der ihr zusätzlich ein paar Euro einbrachte. Verschlafen
stand er auf und ging in die Küche. Dort hatte ihm seine Mutter alles fürs Frühstück
hergerichtet. Die Milch für den Kakao stand schon am Herd, er musste sie nur mehr
wärmen. Und auch der Frühstückstisch war für ihn gedeckt. Mit zwei Brioches, die
sie vorm Weggehen noch aufgebacken hatte. Daneben stand die Butter, die er so gern
zu den Hörnchen hatte. Weich und streichfähig und nicht so hart, wie wenn er sie
erst jetzt aus dem Kühlschrank genommen hätte. Und dann lag da noch etwas: ein großer,
weißer, eng beschriebener Zettel. Er machte sich seinen Kakao, setzte sich gemütlich
hin und aß die erste Brioche. Erst dann widmete er sich dem Zettel, der, wie er
wusste, mütterliche Anweisungen enthielt. Als er ihn las, wurde er blass. Das gefiel
ihm alles gar nicht, was seine Mutter da von ihm verlangte. Dass er die Wohnung
nur verlassen dürfe, wenn er in die Schule ging. Sonst hatte er in der Wohnung zu
bleiben. Zum Glück gestattete ihm seine Mutter eine Ausnahme: In die Pizzeria zu
Signor Veneto durfte er weiterhin gehen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass
er von zu Hause schnurstracks dort hinginge. Ohne Umwege! Und zwar auf dem touristischen
Haupttrampelpfad. Dezidiert untersagte ihm seine Mutter ab sofort, in Hinterhöfe,
schmale Gassen und dunkle Durchgänge zu gehen. Das verbot sie ihm mit Nachdruck.
Gezeichnet war der Brief mit ›Ti voglio bene, mamma‹. Und dann sah er etwas, das
ihm fast das Herz zerriss: Rund um die Unterschrift war das Papier wellig. Seine
Mutter hatte beim Verfassen des Briefes geweint.
Vierundzwanzig
Er arbeitete konzentriert an der
Skulptur. Das Abbild seines dritten Opfers stand in Lebensgröße vor ihm. Die gesamte
Oberfläche war bereits grundiert, nun war er mit dem Vergolden beschäftigt. Mit
einem feinen Haarpinsel brachte er Blättchen um Blättchen auf dem Abbild des nackten
Knabenkörpers auf. Er arbeitete so konzentriert, dass er die Klingel der Eingangstür
überhörte. Erst die zögernden Schritte im Verkaufsraum vorn und dann die zeternde
Altweiberstimme, die »Signor Smith?« rief, ließen ihn in seiner Arbeit innehalten.
»Fuck!«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Sorgsam legte er den
Pinsel und das Heft, in dem sich die Goldblättchen befanden, zur Seite. Dann ging
er mit energischen Schritten zur Tür, drehte allerdings zuerst das Licht im Raum
ab, bevor er sie öffnete. Er trat in den dämmrigen Verkaufsraum, der vollgeräumt
mit Rahmen und allerlei Antiquitäten war. Als Signora Umberti ihn sah, huschte ein
Lächeln über ihr faltiges Gesicht. »Buon giorno, Signor Smith«, rief sie und begann
wie ein Wasserfall zu plappern. Er musste sich sehr konzentrieren, um sie zu verstehen.
Denn ohne Rücksicht darauf, dass er ein Fremder war, plapperte sie in venezianischem
Dialekt vor sich hin. Da er selbst ursprünglich aus einem kleinen Ort bei Neapel
stammte, hatte er mit diesem Idiom seine liebe Not. Er verstand immerhin so viel,
dass Signora Umberti und ihre Freundinnen hellauf begeistert von dem Bilderrahmen
waren, den er ihr neulich vergoldet hatte. Nun wollte sie, dass er in den Palazzo
einer ihrer Bekannten kam. Dort gäbe es einen schönen, alten Spiegel, dessen Rahmen
leider schon in einem sehr desolaten Zustand sei. Sie wollte, dass er auf der Stelle
mitkomme und sich das gute Stück ansehe. Er glaubte zu träumen. Da hatte er dieser
alten Schachtel einen Gefallen getan, um seiner Rolle als Vertreter Cecchettis gerecht
zu werden, und nun belästigte ihn diese ›bloody bitch‹ mit weiteren Jobs. Es juckte
ihn in den Fingern, nach ihrem faltigen Hals zu greifen und ihr kommentarlos das
Genick zu brechen. Er könnte ihre Leiche neben der von Cecchetti verstauen. Cecchettis
Leiche verweste, als handliches Bündel verschnürt, in einem Kasten der Abstellkammer,
die sich im hintersten Ende des Hauses befand. Er gab seinem augenblicklichen Impuls
jedoch nicht nach. No, Sir, I’m not stupid! Sicher hatte der eine oder andere Nachbar
Signora Umberti in seinen Laden hineingehen gesehen. Außerdem hatte die alte Nervensäge
ja ihren Freundinnen und Bekannten erzählt, dass
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