Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
mehr behalten. Er taumelte
vom Bett auf und erreichte gerade noch rechtzeitig das Klo, um in die WC-Muschel
zu kotzen. Leider hatte zuvor die Putzfrau den Klodeckel heruntergeklappt.
Nebel kroch durch die nächtlichen
Kanäle von San Polo. Nebel, der alles in stille, feuchte Watte packte. Lichter schimmerten
diffus, Schritte hörte man sehr gedämpft. Nur an einer besonders malerischen Kreuzung
von Kanälen war dies anders. Hier gab es hektisch herumrennende Menschen, die einander
in Deutsch und Italienisch alle möglichen Dinge zuriefen. Zwei riesige Dieselaggregate,
die sich auf zwei Kähnen befanden, tuckerten lautstark und erzeugten Strom. Viel
Strom. Denn Batterien von Scheinwerfern durchschnitten den Nebel beziehungsweise
zauberten mit Hilfe des Nebels gespenstische Visionen. Bender saß von Magenschmerzen
gequält auf einem Boot und brüllte durch ein Megafon Anweisungen für die Lichtcrew.
Gleichzeitig hielt er über Sprechfunk Kontakt mit der ersten und der zweiten Kamera,
die jeweils an verschiedenen Standorten am Ufer positioniert waren. Eine dritte
Kamera befand sich oben auf einem Hausdach. Mit ihr unterhielt er sich übers Handy.
Der Produktionsleiter befand sich bei der ersten Kamera und den Schauspielern. Der
Aufnahmeleiter bei der zweiten. Diese Kamera sollte die Stimmung in den Kanälen
einfangen und im Laufe der Verfolgungsjagd, die zu drehen war, Material für Gegenschnitte
liefern. Am Dach oben bei der dritten Kamera saß der blutjunge, knackige Produktionsassistent,
den er so gern vögeln wollte, der aber seine Annäherungsversuche bisher samt und
sonders abgeschmettert hatte. »Ach Gott, die Knaben …«, murmelte Bender und es stieß
ihm säuerlich auf. Überraschenderweise war heute das ganze Team gut drauf, und so
konnte Bender früher als geplant mit dem Dreh beginnen. Auf drei Monitoren verfolgte
er die Bilder der Kameras. Sie versöhnten ihn mit dem Flop der Dreharbeiten draußen
in der Lagune. Ja, das war Weltklasse. Wirklich großer Film. Tolle Bilder. Stimmung
bis zum Abwinken. Und auch die Schauspieler, die sich entlang der Kanäle eine Verfolgungsjagd
lieferten, waren heute einfach gut. Innerhalb von eineinhalb Stunden hatten sie
alles im Kasten. Bender war euphorisch. Nun quälten ihn keine Magenschmerzen mehr.
Er hatte Lust auf Prosecco und lud den Produktionsassistenten, die Kameraleute sowie
den jungen und den alten Mühleis zu sich ins Hotel auf einen Drink ein. Alle lächelten
entspannt und zufrieden. Scheinwerfer verloschen, Dieselmotoren wurden abgeschaltet,
ein kalter Hauch wehte über die Filmcrew. Als Bender den Produktionsassistenten
zu sich ins Boot holte, stieß der junge Mühleis plötzlich einen Schrei aus. Sein
Gesicht war kreideweiß, seine dunklen Augen groß wie Koksstücke. Aus seinem Mund
sickerte ein schrilles Wimmern. Als die Augen der anderen seinem Blick folgten,
gefror ihnen das bis dahin entspannte Lächeln. Denn ein lilienweißer Knabenkörper
trieb neben Benders Boot im Dreckwasser des Kanals.
Dreiundzwanzig
Marco beobachtete seine Mutter mit
Unbehagen. Wie gebannt saß sie vor dem TV-Gerät und verfolgte die Sonderberichterstattung
über Raffaele Benvenuto, das dritte Opfer des ›Venedig-Rippers‹. Als er sie kurz
einmal fragte, was denn ein Snuff-Porno sei, schüttelte sie unwirsch den Kopf und
schickte ihn in sein Zimmer. Von dort beobachtete er sie nun. Nervös rauchte sie
eine Zigarette nach der anderen und nippte dazwischen immer wieder an einem Weinglas.
Irgendwie braute sich da etwas zusammen. Er war sich nicht sicher, was, aber es
war nichts Gutes. Er zuckte die Achseln, seufzte, schlüpfte in seinen Pyjama und
ging ins Bad Zähne putzen. Dann näherte er sich ihr vorsichtig und gab ihr einen
Kuss auf die Wange. Er zuckte zusammen, als sie ihn plötzlich mit aller Kraft umarmte.
Sie zog ihn zu sich, sodass er um Luft ringen musste. Dann hielt sie ihn minutenlang
ganz eng an sich gepresst. Marco entspannte sich und genoss die mütterliche Nähe.
Warum sie allerdings plötzlich leise zu weinen begann, war ihm rätselhaft. Zaghaft
umarmte er sie nun ebenfalls. Da brach ein Schwall Tränen aus ihr heraus. Marco
war ratlos. Er machte sich aus der Umarmung los, lief ins Badezimmer und holte Papiertaschentücher.
Er trocknete damit ihre Wangen, was sie ohne Gegenwehr geschehen ließ. Dann nahm
sie ihn wieder in die Arme. So schliefen sie vor dem immer noch laufenden, aber
mittlerweile auf lautlos gestellten, TV-Gerät ein.
Am
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