Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
zwei Fremden, die den Tintenfischrisotto bereits verzehrt hatten
und denen von Marcello nun zwei Espressi serviert wurden, war die Gaststube leer.
Lupino seufzte enttäuscht, setzte sich an die Theke, und Marcello goss ihm unaufgefordert
Wein in sein Glas nach. Gelangweilt sah Lupino hinauf zu dem kleinen Fernsehgerät,
doch da lief nichts von Interesse. Plötzlich hörte er eine wohlbekannte Stimme vom
Eingang her:
»Mensch,
Wölfchen, bin ich besoffen.«
Wenige Augenblicke
später ließ sich Ranieri neben ihm auf einen Barhocker nieder. Lupino erschrak.
Der suspendierte Polizist sah dermaßen verkommen aus, dass er ihm leidtat. Ungepflegte
fettige Haare, ein graumelierter stacheliger Bart, in dem irgendwelche Speisereste
klebten, verdrückte, schmuddelig aussehende Kleidung sowie ein Körpergeruch, der
nichts mehr mit einer gewissen männlichen Ausdünstung zu tun hatte. Nein, Ranieri
stank wie ein Penner. Lupino rutschte mit seinem Barhocker etwas weg. Ranieri schien
das nicht zu bemerken, er grölte vielmehr:
»Una
birra, per favore! [23] «
Widerwillig
öffnete Marcello eine Flasche Bier und stellte sie samt Glas vor Ranieri auf die
Theke. Dieser schenkte sich ein, nahm einen langen Schluck und fiel vom Barhocker.
Lupino erschrak. Er half Ranieri auf. Dieser wusste nicht, was geschehen war. Völlig
desorientiert klammerte er sich an die Theke. Und dann ging es los: Sein Körper
verkrümmte sich, und er erbrach einen Schwall, der an der Thekenwand abprallte und
zurück auf Ranieris Kleidung spritzte. Lupino schnappte seinen Exkollegen und drängte
ihn hinaus auf die Gasse. Dort beugte er ihn über das Geländer der kleinen Brücke
vor der Osteria, und Ranieri kotzte nun in den Kanal. Als nur mehr gelblicher Schleim
aus Ranieri herauströpfelte, nahm Lupino ein Papiertaschentuch und säuberte Ranieris
Gesicht so gut es ging. Dann packte er ihn unter der Schulter und bugsierte ihn
in die Osteria zurück. Denn draußen hatten sie schon einiges Aufsehen erregt. Touristen
waren stehen geblieben und hatten Ranieris Kotzfestspiel mit fasziniertem Ekel beobachtet.
Ein asiatischer Tourist entblödete sich nicht, die unappetitliche Szene zu filmen.
Lupino schleppte Ranieri vorbei an Marcello, der mit einem Aufwischtuch und einem
Kübel mit Lauge Ranieris Kotze von der Bar entfernte. Im Vorraum des Klos steckte
er den Kopf seines Exkollegen unter kaltes Wasser. Dieser schnaubte, hustete und
spuckte. Schließlich stammelte er fast ohne Zungenschlag:
»Verdammte
Scheiße! Schluss! Aus! Ich bin wieder bei Sinnen.«
Lupino drehte
das Wasser ab und lehnte Ranieris Körper an die Wand. Dann nahm er aus dem Spender
mehrere Einweg-Papiertücher und trocknete sorgfältig Ranieris Gesicht ab. Das schien
dieser Saukerl sogar zu genießen! Als er damit fertig war, gab er Ranieri einen
leichten Stoß und sagte:
»Raus mit
dir!«
Kaum schwankend
verließ Ranieri das WC und setzte sich etwas benommen an einen Tisch im Schankraum.
Er schluckte mehrmals und sagt dann:
»Scusami,
Marcello! Sono mortificato. [24] «
Marcello
nickte grimmig, und Ranieri bestellte sich einen Espresso doppio. Lupino nahm neben
Ranieri Platz und begann von seinen Ermittlungsansätzen zu erzählen. Ranieri, dank
des Espressos nun komplett nüchtern, hörte gebannt zu. Dann nahm er den Salzstreuer,
öffnete ihn und goss den Inhalt auf das erdfarbene Tischtuch. Aus dem Salzhaufen
formte er die fischförmigen Umrisse von Venedig. Dann nahm er die Zuckerwürfel,
die ihm zum Espresso serviert worden waren – er hatte ihn bitter getrunken – und
markierte damit die Punkte, wo die Knabenleichen gefunden worden waren.
»In der
Questura haben wir dafür eine riesige Karte und bunte Stecknadeln. Aber es funktioniert
auch so. Guck mal, Wölfchen: Die Leichen wurden alle auf der San Polo- und Dorsoduro-Seite
des Canal Grande gefunden. Das heißt, dass die Knaben höchstwahrscheinlich irgendwo
hier«, sein Finger zeigte in die Mitte dieser beiden venezianischen Bezirke, »ermordet
wurden. In dem Gebiet zwischen der Kirche San Polo und dem Guggenheim-Museum. Hier
muss irgendwo der Wahnsinnige sitzen, der Kinder abschlachtet. Denn eines sag ich
dir: Das hat mit der Mafia null zu tun. Das ist ein Einzeltäter. Ein Psychopath.
Aber die Arschgeigen in der Questura wollen das nicht wahrhaben.«
Sechsundzwanzig
Nein, nein und nochmals nein! Diese
Location passte überhaupt nicht. Warum schlug ihm Philipp Mühleis dauernd nur Drehorte
im Dorsoduro und in San Polo
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