Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
vor? Es gab doch auch genug andere interessante Gegenden
in Venedig. Zum Beispiel die Bezirke Arsenale oder Cannarégio. Adi Bender verstand
die Fixierung seines Aufnahmeleiters auf diese zwei Bezirke nicht. Und ehrlich gesagt
ging er ihm von Tag zu Tag mehr auf die Nerven.
»Warum können
wir nicht einmal auf der Giudecca drehen? Oder auf Murano? Oder auf dem verdammten
Lido? Ich möchte die unterschiedlichsten Gesichter Venedigs und der Lagune einfangen.
Und nicht immer nur Dorsoduro, San Polo und wieder Dorsoduro. Das hängt mir zum
Hals heraus!«
Philipp
Mühleis war blass geworden. Diesen Frontalangriff des Regisseurs hatte er nicht
erwartet. Schließlich bemühte er sich ja. Und gab sein Bestes. Eine Gemeinheit war
das. Eine der typischen Bender’schen Untergriffe. Nein, das ließ er sich nicht gefallen!
Er sprang auf, knallte die Unterlagen auf den Tisch und schrie Bender, seinen Vater,
den Produzenten, den Produktionsassistenten und den Kameramann an:
»Ihr habt
ja keine Ahnung, was ich durchmache …«
Bender schrie
zurück:
»Das interessiert
mich nicht! Du hast deine Arbeit ordentlich zu machen. Alles andere ist mir schnurzpiepegal!«
Philipp
sprang neuerlich auf und stand da, kalkweiß, mit offenem Mund. Sein Vater, der gleichzeitig
ja auch Produktionsleiter war, versuchte die Situation zu entschärfen. In versöhnlichem
Tonfall sagte er:
»Philipp,
darum geht es nicht. Wir alle fühlen mit dir mit. Aber wir brauchen trotzdem tolle
Locations. Und das, was du uns da heute vorgeschlagen hast, haben wir so oder so
ähnlich bereits im Kasten. Also beruhig dich und bring uns schleunigst neue Vorschläge.«
Nun fühlte
sich auch der Produzent bemüßigt, seinen Senf dazu zu geben. Nach einem tiefen Zug
aus der Zigarette sagte er väterlich:
»Philipp,
Mensch. Dreh hier keine Oper. Du weißt doch, dass das ganze Team hinter dir steht.
Aber wir brauchen trotzdem deinen vollen Arbeitseinsatz. Wir sind hier nicht auf
Vergnügungsurlaub.«
Philipp
Mühleis bekam einen dicken Hals und brüllte: »Vergnügungsurlaub? Ihr tickt ja alle
nicht richtig. Ich sag euch, was das hier ist: Ein Horrortrip! Aber bitte, ich bring
euch Giudecca, Murano, den Lido und die ganze Scheißlagune!«
Damit drehte
er sich um und verließ, die Tür ins Schloss werfend, den Besprechungsraum.
Siebenundzwanzig
Lupino erklärte gerade einer Gruppe
aus Dresden, was es mit dem Heiligen Markus und Venedigs Wappentier, dem Löwen,
auf sich hatte, als sein Handy klingelte. Er ließ es läuten und sprach ruhig weiter.
Als es kurz darauf ein zweites Mal läutete, meinte eine weißhaarige Dame, die Sandalen
anhatte, in denen ihr an beiden Füßen abnorm verformter Halux aufs Unappetitlichste
sichtbar war: »Woll’n Se nich abheben?« Doch Lupino sprach auch diesmal ruhig weiter.
Als es kurze Zeit später noch einmal läutete, stellte er das Gerät kurzerhand ab.
Um keinen Preis der Welt wollte er sich zum Sklaven seines Handys machen. Es gab
Zeitpunkte in seinem Leben, in denen er nicht zu sprechen war. Später, nach Beendigung
der Führung, das Trinkgeld war untermittelprächtig gewesen, steuerte er die Bar
ai Fiori an und bestellte sich einen Vino bianco. Als er so dasaß und die schmale
Gasse beobachtete, fiel ihm wieder sein Handy ein. Er nahm einen Schluck, zog das
Handy aus der Tasche, schaltete es ein und sah, dass Philipp Mühleis verzweifelt
versucht hatte, ihn zu erreichen. Eine blöde Geschichte, dachte er sich. Mein einziger
Klient seit Langem. Trotzdem lass ich mich nicht nerven. Er nahm einen weiteren
Schluck Wein und wählte dann Philipp Mühleis’ Nummer.
»Herr Severino,
endlich«, seufzte Philipp Mühleis. Lupino stammelte irgendwelche Entschuldigungen,
dass er in einer Besprechung gewesen war und deshalb nicht abheben konnte. Er staunte,
dass Mühleis ihn sofort treffen wollte. Als er eher abweisend auf dieses Ansinnen
reagierte, begann Mühleis wie ein kleines Kind zu betteln. Lupino stimmte schließlich
seufzend zu. Eine Viertelstunde später trafen sie sich in einer Bar beim Mercato
Rialto. Jetzt, zu Mittag, war verdammt viel los hier. Menschenmassen drängten sich
über den Markt. Auf dem Weg zur Bar konnte Lupino der Versuchung nicht widerstehen,
ein Kilo Castraure zu erstehen, diese kleinen, violetten Artischocken, die extrem
jung geerntet wurden. Sie stammten von der Insel Sant’Erasmo und waren ein ganz
besonderer Genuss. Lupino wollte Gino bitten, ihm das Gemüse kurz in Zitronenwasser
zu marinieren und
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