Qual
Lamont-Zentrums.
»Drei Uhr früh?« fragte Mosala. »Das meinen Sie doch nicht ernst!« Sie dachte nach. »Gut. Wenn das die Alternative wäre… dann spiele ich eben mit.«
»Also erzählen Sie mir von Ihrer Mutter.« Ich unterdrückte den Drang zu sagen: Antworten Sie einfach mehr oder weniger zufällig, solange Sie sich nicht widersprechen.
Dann improvisierte sie drauflos und spulte ihren kurzgefaßten Lebenslauf ohne eine erkennbare Spur von Ironie ab. »Meine Mutter hat für meine Ausbildung gesorgt. Damit meine ich keineswegs eine Schule. Sie hat mich ins Net eingeklinkt und ließ mich mit einem erwachsenen Datenmaulwurf arbeiten, als ich sieben oder acht war. Sie hat mir… den ganzen Planeten zugänglich gemacht. Ich hatte Glück, denn wir konnten es uns leisten, und sie wußte genau, was sie tat. Aber sie hat mich nicht zur Wissenschaft gelenkt.
Sie hat mir nur die Schlüssel zu diesem riesigen Spielplatz gegeben und dann keinen Einfluß mehr genommen. Ich hätte mich genauso für Musik, Kunst, Geschichte oder irgend etwas anderes interessieren können. Sie hat mich in keine bestimmte Richtung gedrängt. Sie hat mir alle Möglichkeiten eröffnet.«
»Und Ihr Vater?«
»Mein Vater arbeitete bei der Polizei. Er kam ums Leben, als ich vier war.«
»Das muß eine traumatische Erfahrung gewesen sein. Glauben Sie, dieser frühzeitige Verlust könnte Ihnen den nötigen Antrieb und die Unabhängigkeit gegeben haben…?«
Mosala warf mir einen Blick zu, der keineswegs zornig, sondern eher mitleidig war. »Mein Vater erhielt einen Kopfschuß durch einen Heckenschützen bei einer politischen Kundgebung, als er dabei half, zwanzigtausend Menschen zu schützen, deren Ansichten ihm völlig zuwider waren. Und – diese Stelle werden Sie auf jeden Fall herausschneiden, ganz gleich, was es für die Sendezeit bedeutet – er war ein Mensch, den ich sehr geliebt habe, den ich immer noch liebe. Er ist keine Ansammlung von fehlenden Zahnrädern in meinem psychodynamischen Uhrwerk. Er ist kein fehlender Faktor, den ich kompensieren mußte!«
Ich spürte, wie ich vor Scham errötete. Ich blickte auf mein Notepad und übersprang mehrere ähnlich törichte Fragen. Schließlich konnte ich das Interviewmaterial immer noch durch Kindheitserinnerungen ihrer Freunde ausfüllen… dazu ein paar Archivaufnahmen von Kapstädter Schulen aus den dreißiger Jahren… irgend etwas.
»Sie haben einmal gesagt, daß Sie sich im Alter von zehn Jahren für die Physik entschieden hatten. Damals wußten Sie, daß Sie den Rest Ihres Lebens diesem Fachgebiet widmen wollten – aus rein persönlichen Gründen, um Ihre Neugier zu befriedigen. Wann dachten Sie erstmals darüber nach, sich mit dem größeren Bereich zu befassen, auf dem die Wissenschaft tätig ist? Wann sind Sie sich der ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren bewußt geworden?«
Mosala antwortete völlig ruhig, nachdem sie sich wieder unter Kontrolle hatte. »Ich schätze, etwa zwei Jahre später. Es war zu der Zeit, als ich begann, Muteba Kazadi zu lesen.«
Sie hatte den Namen bisher in keinem anderen Interview erwähnt, und ich war froh, daß ich über ihn gestolpert war, als ich Material zur PAKVF gesucht hatte. Andernfalls hätte ich an dieser Stelle vermutlich recht dumm aus der Wäsche geguckt. Muteba wer?
»Also wurden Sie von der Idee der technolibération beeinflußt?«
»Natürlich.« Sie runzelte mit leichter Belustigung die Stirn – als hätte ich sie gerade gefragt, ob sie jemals von Albert Einstein gehört hätte. Ich war mir trotzdem nicht sicher, ob sie aufrichtig war oder nur mit einem gewissen Zynismus zu kooperieren versuchte, während sie bemüht war, SeeNets Bedürfnis nach Klischees nachzukommen. Aber damit mußte ich rechnen, nachdem ich sie gebeten hatte, das Spiel mitzuspielen.
»Muteba hat die Rolle der Wissenschaft deutlicher als kaum ein anderer auf den Punkt gebracht. Und mit nur wenigen Sätzen konnte er… sämtliche Zweifel verpuffen lassen, die ich möglicherweise bei der Vorstellung hatte, das planetare Warenhaus der Kultur und Wissenschaft zu plündern, um mir genau das zu nehmen, was ich haben wollte.« Sie zögerte, dann zitierte sie:
»Wenn Leopold der Zweite sich aus dem Grab erhebt
Und sagt: ›Mein Gewissen plagt mich, nehmt zurück
All dies un-belgische Elfenbein, den Kautschuk und das Gold!‹
Dann werde ich auf meine unrechtmäßigen, un-afrikanischen Gewinne verzichten
Und demütig die Infinitesimalrechnung und
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