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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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mir wichtig war – ergab für sie überhaupt keinen Sinn. Als ich mein eigenes Bewußtsein entwickelte, behandelten sie mich wie… ein außerirdisches Findelkind. Sie waren hochgebildete, hochbezahlte, kultivierte und kosmopolitische… Traditionalisten. Sie waren immer noch mit Malawi verbunden – und einer klar definierten sozialen Schicht – und gaben deren Werte und Vorurteile niemals auf. Ich hatte keine Heimat mehr. Ich war frei.« Hie lachte. »Das Reisen bringt die Invarianten zum Vorschein: dieselben Heucheleien, die sich ständig wiederholen. Als ich vierzehn geworden war, hatte ich in dreißig verschiedenen Kulturen gelebt – und ich hatte begriffen, daß Sex etwas für dumme Konformisten war.«
    Das brachte mich beinahe zum Schweigen. »Meinen Sie das Geschlecht an sich – oder den Verkehr?« fragte ich vorsichtig.
    »Beides.«
    »Manche Menschen brauchen beides«, sagte ich. »Nicht nur biologisch… Ich weiß, das läßt sich abschalten. Aber… für die Identität. Für die Selbstachtung.«
    Kuwale schnaufte belustigt. »Die Selbstachtung ist ein Luxus, der von den Selbsterfahrungskulten des zwanzigsten Jahrhundert erfunden wurde. Wenn Sie Selbstachtung – oder ein emotionales Zentrum – benötigen, gehen Sie nach Los Angeles und kaufen sich eins.« Hie fügte etwas wohlwollender hinzu: »Was ist eigentlich mit euch Abendländern los? Manchmal habe ich den Eindruck, daß all die vorwissenschaftlichen Psychologien von Freud und Jung – und die wiedergekäuten Varianten des US-amerikanischen Psychomarkts – eure Sprache und Kultur so vollständig durchdrungen haben, daß ihr gar nicht mehr in der Lage seid, außer in Kultsprache über euch selbst nachzudenken. Inzwischen ist es so tief verwurzelt, daß ihr gar nicht mehr bemerkt, wenn ihr es tut.«
    »Vielleicht haben Sie recht.« Ich fühlte mich bereits unermeßlich alt und traditionalistisch. Wenn Kuwale die Zukunft war, dann lag die Generation nach hie völlig außerhalb meines Begriffsvermögens. Was vermutlich gar nichts Schlechtes war, aber es war trotzdem eine schmerzhafte Erkenntnis. »Und was wollen Sie an die Stelle des abendländischen Psychoblablas setzen? Asex und technolibération kann ich noch einigermaßen nachvollziehen – aber worin besteht die große Attraktivität der Anthrokosmologie? Wenn Sie ein Stück kosmische Sicherheit wollen, warum entscheiden Sie sich dann nicht für eine Religion, die das Leben nach dem Tod garantiert?«
    »Sie sollten sich zu den Mördern da oben gesellen, wenn Sie glauben, Sie könnten frei wählen, was die Wahrheit ist und was nicht.«
    Ich starrte in den finsteren Frachtraum. Der schwache Lichtstreifen verblaßte zusehends. Es sah danach aus, als müßten wir hier eine sehr kalte Nacht verbringen. Meine Blase schien kurz vor dem Bersten zu stehen, aber ich hatte Schwierigkeiten, meinem Bedürfnis einfach nachzugeben. Jedesmal, wenn ich dachte, ich hätte endlich meinen Körper und alles, was er mir antun konnte, akzeptiert, zog die Unterwelt wieder die Zügel an. Ich hatte nichts akzeptiert. Ich hatte einen kurzen Blick unter die Oberfläche geworfen, und nun wollte ich dort alles begraben, was ich gelernt hatte, um weiterzumachen, als hätte sich nichts geändert.
    »Die Wahrheit ist immer das, womit man am besten durchkommt«, sagte ich.
    »Nein, das ist Journalismus. Die Wahrheit ist immer das, wovor Sie nicht weglaufen können.«
     
    Ich wurde geweckt, als mir eine Lampe ins Gesicht schien und jemand mit einem Enzym-Messer durch das Polymer-Netz schnitt, das mich an Kuwale fesselte. Es war so kalt, daß es früher Morgen sein mußte. Ich blinzelte und zitterte und war durch das helle Licht geblendet. Ich konnte nicht erkennen, wie viele Leute anwesend waren, und erst recht nicht, wie sie bewaffnet waren, aber ich hielt völlig still, während man mich losschnitt. Ich sagte mir, daß alles andere höchstens dazu führte, daß man mir eine Kugel in den Kopf schoß.
    Ich wurde in einer behelfsmäßigen Schlinge hochgehievt und hing dann in der Luft, während drei Leute mit Hilfe einer Strickleiter aus dem Frachtraum kletterten. Kuwale ließen sie zurück. Ich blickte mich auf dem mondbeschienenen Deck um und das (soweit ich erkennen konnte) offene Meer. Der Gedanke, Stateless verlassen zu haben, ließ mich erschaudern. Wenn es irgendeine Chance auf Hilfe gab, dann gewiß nur auf der Insel.
    Man schlug die Frachtluke zu, ließ mich aufs Deck hinunter und entknotete meine Fußfesseln. Dann

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