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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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Ich möchte es Ihnen nur erklären.«
    Ich wartete schweigend. Nach einer Weile sagte sie: »Zehn Stunden. Ich träume immer noch davon. Ich wuchs auf einem Fischerboot auf – und ich habe erlebt, wie ganze Dörfer von Stürmen fortgerissen wurden. Ich dachte, ich wüßte bereits genau, was ich vom Meer zu erwarten hatte. Aber nachdem ich diese lange Zeit mit meiner Schwester im Wasser verbracht hatte, änderte sich alles für mich.«
    »In welcher Weise? Haben Sie jetzt mehr Respekt, mehr Furcht?«
    Vunibobo schüttelte ungeduldig den Kopf. »Eher mehr Schwimmwesten, aber darauf will ich gar nicht hinaus.« Sie verzog hilflos das Gesicht, dann sagte sie: »Würden Sie mir einen Gefallen tun? Schließen Sie die Augen und versuchen Sie sich die Welt vorzustellen. Alle zehn Milliarden Menschen auf einmal. Ich weiß, daß es unmöglich ist – aber versuchen Sie es.«
    Ich war verblüfft, aber ich tat ihr den Gefallen. »Gut.«
    »Jetzt sagen Sie mir, was Sie sehen.«
    »Die Erde aus dem Weltraum. Sie sieht eher wie eine Zeichnung als eine Fotografie aus. Norden ist oben. Der Indische Ozean liegt im Zentrum, doch der Blick reicht von Westafrika bis Neuseeland, von Irland bis Japan. Auf allen Kontinenten und Inseln stehen Menschenmassen – natürlich nicht maßstabgerecht. Ich könnte sie niemals zählen, aber ich schätze, insgesamt sind es etwa einhundert.«
    Ich öffnete die Augen. Auf meiner Landkarte war ihre alte und neue Heimat nicht enthalten, aber ich hatte das Gefühl, daß es hierbei nicht darum ging, ein Bewußtsein für die Marginalisierung geographischer Repräsentationen zu entwickeln.
    »Ich habe etwas ganz Ähnliches gesehen«, sagte sie. »Doch seit dem Unfall hat es sich verändert. Wenn ich die Augen schließe und mir die Welt vorstelle, sehe ich jetzt… dieselbe Karte, dieselben Kontinente… aber das Land ist gar kein Land mehr. Was wie fester Boden aussieht, ist in Wirklichkeit eine dichte Masse aus Menschen. Es gibt kein trockenes Land, nirgendwo gibt es Boden, auf dem man stehen könnte. Wir alle sind im Ozean, treten Wasser und versuchen, nicht unterzugehen. So werden wir geboren, und so sterben wir. Wir bemühen uns gemeinsam, den Kopf über Wasser zu halten.« Sie lachte in plötzlicher Verlegenheit, doch dann setzte sie trotzig hinzu: »Sie wollten eine Erklärung.«
    »Ja.«
    Die bunten Koralleneinschlüsse hatten sich in Bäche aus gebleichtem Kalkstein verwandelt, doch der Riff-Fels ringsum schimmerte nun in zarten Grün- und Silbergrautönen. Ich fragte mich, was die anderen Farmer mir erzählt hätten, wenn ich ihnen dieselbe Frage gestellt hätte. Vermutlich hätte ich ein Dutzend unterschiedlicher Antworten erhalten. Stateless schien nach dem Prinzip zu funktionieren, daß die Menschen einmütig dieselbe Sache taten, aber aus völlig unterschiedlichen Gründen. Es war eine Summe sich gegenseitig widersprechender Topologien, die das Differential des Prä-Raums ignorierten. Keine aufgezwungene Politik, keine Philosophie oder Religion, keine jubelselige Verehrung von Fahnen oder Symbolen, aber trotzdem entstand daraus eine Ordnung.
    Und ich wußte immer noch nicht, ob ich das für ein Wunder oder für völlig normal halten sollte. Ordnung bildete sich und überdauerte nur, wenn sich irgendwo genügend Leute zusammenfanden, die sie sich wünschten. Jede Demokratie war eine Art von Anarchie in Zeitlupe, denn jede Bestimmung, jede Verfassung konnte sich im Lauf der Zeit verändern, jeder soziale Vertrag, ob geschrieben oder ungeschrieben, konnte in Verruf geraten. Die einzigen Sicherheitsnetze waren die Trägheit, Apathie und Vernebelung. Auf Stateless hatte man den – vermutlich verrückten – Mut gehabt, den ganzen politischen Knoten bis zu seiner einfachsten Form aufzuknüpfen, um auf die unverschnörkelte Struktur von Macht und Verantwortung, Toleranz und Konsens zu blicken.
    »Sie haben mich vor dem Ertrinken gerettet«, sagte ich. »Wie kann ich mich erkenntlich zeigen?«
    Vunibobo blickte mich an und versuchte einzuschätzen, wie ernst ich es meinte. »Geben Sie sich mehr Mühe beim Schwimmen. Helfen Sie, uns alle über Wasser zu halten.«
    »Ich werde es versuchen. Falls ich jemals die Gelegenheit dazu erhalte.«
    Sie lächelte über mein behutsames Halb-Versprechen und rief mir in Erinnerung: »Wir fahren mitten in einen Sturm hinein. Ich denke, Sie werden Ihre Gelegenheit erhalten.«
     
    Ich hatte zumindest erwartet, daß die Straßen im Zentrum der Insel verlassen seien,

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