Qual
dieser scheinbaren Abgelegenheit war Stateless nicht mehr als viertausend Kilometer von Sydney entfernt, und ein Direktflug hätte weniger als zwei Stunden beansprucht.
Ich saß in der Transitlounge in Phnom Penh und versuchte die verknoteten Muskeln meines Genicks zu entspannen. Die Klimaanlage war auf eiskalt gestellt, doch die Feuchtigkeit schien ungehindert in das Gebäude eindringen zu können. Ich dachte daran, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen – die ich noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte – aber ich hatte nur vierzig Minuten zwischen den Flügen, und es würde vermutlich die Hälfte der Zeit beanspruchen, die nötigen Visa zu erhalten.
Ich hatte noch nie verstanden, warum die australische Regierung den Boykott gegen Stateless so vehement unterstützte. Seit dreiundzwanzig Jahren hatten mehrere Außenminister gegen den ›destabilisierenden Einfluß auf die Region‹ gewettert, doch in Wirklichkeit hatte Stateless dazu beigetragen, die Spannungen erheblich zu entschärfen, indem die Insel mehr Treibhaus-Flüchtlinge als jede andere Nation auf dem Planeten aufgenommen hatte. Und es stimmte zwar, daß die Schöpfer von Stateless gegen zahllose internationale Bestimmungen verstoßen und Tausende von patentierten DNS-Sequenzen ohne Erlaubnis benutzt hatten… doch eine Nation, die sich auf Invasion und Massenmord gründete (Taten, die in einem Vertrag, den man zweihundertfünfzig Jahre später unterzeichnet hatte, zutiefst bedauert wurden), konnte kaum den Anspruch erheben, aus einer moralisch erhabeneren Position zu argumentieren.
Es war klar, daß Stateless ausschließlich aus politischen Gründen geächtet wurde. Doch keiner der Machthaber schien es für nötig zu halten, diese Gründe beim Namen zu nennen.
Also saß ich rückensteif von einem Vier-Stunden-Flug in die falsche Richtung in der Transitlounge und versuchte, die Abschnitte von Sisyphus’ Physiklektionen zu lesen, die ich beim ersten Mal nur überflogen hatte. Der Text wurde in anklagend leuchtendem Blau angezeigt, und die Blicksteuerung funktionierte auf unausstehliche Weise zuverlässig.
Mindestens zwei sich widersprechende verallgemeinerte Maße lassen sich auf T anwenden, den Raum sämtlicher topologischen Räume mit abzählbarer Basis. Sowohl Perrinis Maß [Perrini, 2012] als auch Saupes Maß [Saupe, 2017] sind definiert für alle abhängigen Teilmengen von T und sind äquivalent, wenn sie auf M beschränkt werden – den Raum n-dimensionaler parakompakter Hausdorffscher Mannigfaltigkeiten –, doch sie ergeben widersprüchliche Resultate für Mengen aus exotischeren Räumen. Die physikalische Signifikanz (sofern vorhanden) dieser Diskrepanz bleibt jedoch rätselhaft…
Ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich gab auf, schloß die Augen und versuchte einzudösen – doch eine Siesta schien zur Zeit biochemisch unmöglich zu sein. Ich leerte meinen Geist und wollte mich ein wenig entspannen. Schließlich summte mein Notepad und kündigte meinen Anschlußflug nach Dili an. Es hatte die Nachricht über Infrarot einige Sekunden vor dem Beginn der multilingualen Audio-Durchsage empfangen. Ich machte mich auf den Weg zur Sicherheitskontrolle – und beim Hindurchtreten erinnerte ich mich an den Scanner in Manchester, der ein poetisches Profil aus dem Gehirn einer Studentin ausgelesen hatte. In zwanzig Jahre wäre man zweifellos in der Lage, die Absichten eines Flugzeugentführers so mühelos wie mitgeführten Sprengstoff oder ein Messer zu registrieren. Meine Paß-Datei enthielt Angaben zu meinen verdächtigen inneren Anomalien, um nervöse Sicherheitsbeamte zu beruhigen, daß ich nicht unverhofft explodieren würde… und vielleicht würden Menschen, die von ungewollten Träumen, in zwanzigtausend Metern Höhe plötzlich Amok zu laufen, heimgesucht wurden, in Zukunft ein entsprechendes Harmlosigkeitszertifikat benötigen.
Es gab keine Flüge von Kambodscha nach Stateless. China, Japan und Korea unterstützten allesamt das Embargo, so daß Kambodscha mit seinen wichtigsten Handelspartnern gleichzog, um Animositäten zu vermeiden. Es war genauso wie mit Australien – doch dort ging die enthusiastische Verfolgung der ›Anarchisten‹ weit über die Gebote der Realpolitik hinaus. Aber es gab Flüge von Phnom Penh nach Dili, und von dort aus konnte ich endlich mein Ziel erreichen.
Es war kein Geheimnis, warum eine Verbindung Sydney-Dili nicht in Frage kam. Nachdem Osttimor im Jahre 1976 von Indonesien annektiert worden
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