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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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hatte Mutter und Tochter im Krankenhaus besucht, und ich hatte mich im Aufzug in sie verknallt, bevor ich wußte, wer sie war.
    Als Angelo saß, sagte er vorsichtig: »Ich glaube, sie möchte nur wissen, wie es dir geht.«
    »Ich habe ihr zehn Nachrichten in zehn Tagen geschickt. Sie weiß genau, wie es mir geht.«
    »Sie sagte, du hättest plötzlich aufgehört.«
    »Plötzlich? Mehr als zehn rituelle Selbsterniedrigungen ohne eine Antwort kann sie nicht erwarten.« Ich hatte nicht beabsichtigt, verbittert zu klingen, doch Angelo kam sich bereits wie ein Friedensvermittler vor, der auf einem Schlachtfeld gestrandet war. Ich lachte. »Sag ihr einfach, was sie hören will. Sag ihr, ich sei am Boden zerstört… würde mich aber schnell erholen. Ich möchte nicht, daß sie sich beleidigt fühlt… aber sie soll sich auch nicht schuldig fühlen.«
    Er lächelte unsicher, als ich hätte ich einen geschmacklosen Witz gerissen. »Sie nimmt es sich schwer zu Herzen.«
    Ich ballte die Hände zu Fäusten und sagte langsam: »Das weiß ich, und mir geht es genauso, aber meinst du nicht auch, daß sie sich besser fühlen würde, wenn du ihr sagst…« Ich hielt inne. »Was sollst du mir sagen, falls ich dich frage, ob eine Chance besteht, daß sie zu mir zurückkommt?«
    »Sie sagte, ich soll nein sagen.«
    »Natürlich. Aber… hat sie es auch so gemeint? Was sollst du mir sagen, wenn ich frage, ob sie es ehrlich meint?«
    »Andrew…«
    »Vergiß es.«
    Es folgte ein längeres, bedrücktes Schweigen. Ich überlegte, ob ich fragen sollte, wo sie jetzt war, mit wem sie zusammen war, aber ich wußte, daß er es mir nicht verraten würde. Und ich wollte es eigentlich gar nicht wissen.
    Ich sagte: »Ich soll morgen nach Stateless abfliegen.«
    »Ja, das habe ich gehört. Viel Glück.«
    »Es gibt eine Journalistin, die liebend gerne das Projekt von mir übernehmen würde. Ich müßte nur einen kurzen Anruf…«
    Er schüttelte den Kopf. »Dafür gibt es keinen Grund. An deiner Stelle würde ich nichts ändern.«
    Wieder Schweigen. Nach einer Weile griff Angelo in eine Jackentasche und zog ein kleines Plastikfläschchen mit Tabletten heraus. »Ich habe hier einige Ds«, sagte er.
    Ich stöhnte. »Früher hast du dieses Zeug nie genommen.«
    Er blickte verletzt zu mir auf. »Es ist harmlos. Ich schalte gerne einmal ab. Was ist verkehrt daran?«
    »Nichts.«
    Disinhibitoren waren nicht toxisch und nicht suchterzeugend. Sie schufen ein sanftes Wohlgefühl und machten es anstrengender, bewußt zu denken – in etwawie eine leichte Dosis Alkohol oder Cannabis, nur mit weniger Nebenwirkungen. Die Konzentration im Blut war katalytisch limitiert – ab einem bestimmten Wert baute sich das Molekül von selbst ab – daher hatte es exakt dieselbe Wirkung, ob man nur eine einzige Tablette oder den gesamten Vorrat schluckte.
    Angelo hielt mir das Fläschchen hin. Ich nahm zögernd eine Tablette heraus und hielt sie in der Hand.
    Alkohol war nahezu vollständig aus der zivilisierten Gesellschaft verschwunden, seit ich zehn Jahre alt geworden war, doch der Gebrauch als ›soziales Schmiermittel‹ schien in der Retrospektive immer noch als unmißverständlich vorteilhaft gepriesen zu werden, und nur die Gewaltausbrüche und organischen Schäden wurden als pathologisch betrachtet. Mir jedoch kam die Zauberpille, die an seine Stelle getreten war, wie eine Destillation des eigentlichen Problems vor. Leberzirrhose, Hirnschäden, verschiedene Krebsarten und die schwersten Verkehrsunfälle und Rauschverbrechen waren gnädigerweise gebannt… aber ich war immer noch nicht bereit, mir einzugestehen, daß Menschen physisch nicht in der Lage sein sollten, ohne die Hilfe psychoaktiver Drogen zu kommunizieren oder sich zu entspannen.
    Angelo schluckte eine Tablette und sagte tadelnd: »Komm schon, es wird dich nicht umbringen. Jede bekannte menschliche Kultur hat irgendeine Art von…«
    Ich tat so, als würde ich das Ding in den Mund stecken, behielt es aber in der Hand. Ich scheiß auf jede bekannte menschliche Kultur. Ich verspürte vorübergehend Gewissensbisse wegen dieses Täuschungsmanövers, aber ich hatte nicht die Kraft zu einem Streitgespräch. Außerdem steckte eine gute Absicht hinter meiner Unaufrichtigkeit. Ich konnte mir vorstellen, wie Gina zu ihrem Bruder gesagt hatte: Gib ihm etwas D, nur so wird er reden. Sie hatte Angelo in der Hoffnung zu mir gesandt, ich würde mein Herz ausschütten, meine Eingeweide entleeren, um wieder zu gesunden.

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