Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
Vom Netzwerk:
wehte eine Brise mit Meeresaroma, warm, aber nicht unangenehm.
    Ich lief wahllos durch Nebenstraßen, bis ich auf einen offenen Platz stieß. In der Mitte war ein kleiner kreisrunder Park, etwa zwanzig Meter im Durchmesser, mit üppigem Gras bewachsen, wild und ungemäht, und mit kleinen Palmen durchsetzt. Es war die erste Vegetation, die mir auf Stateless aufgefallen war, wenn man einmal von den Topfpflanzen im Hotel absah. Mutterboden war hier ein Luxus. Die nötigen Mineralien fanden sich zwar allesamt im Ozean, doch wenn man versucht hätte, die Insel mit genügend Erdreich zum Ackerbau auszustatten, hätte man die tausendfache Menge an Wasser heranschleppen müssen, die für die Nahrungskette aus Algen und Plankton benötigt wurde, die jedoch dieselben Bedürfnisse erfüllte.
    Ich starrte auf diesen bescheidenen Flecken Grün, und je länger ich starrte, desto mehr irritierte mich dieser Anblick. Es dauerte eine Weile, bis ich den Grund dafür begriffen hatte.
    Die gesamte Insel war ein Artefakt, nicht anders als ein Gebäude aus Metall und Glas. Sie wurde durch biotechnische Lebensformen unterhalten, doch ihre wilden Vorfahren hatten mit ihnen genausowenig zu tun wie rohe Erzklumpen mit einer schimmernden Titanlegierung. Dieser winzige Park, der eigentlich nur eine übergroße Topfpflanze darstellte, hätte die Künstlichkeit des Ambientes nur unterstreichen müssen, hätte mir die Illusion rauben müssen, daß ich nicht auf einer riesigen Maschine stand.
    Doch er tat es nicht.
    Ich hatte Stateless aus der Luft gesehen, wie es seine Fühler in den Ozean hinausstreckte, von einer organischen Schönheit wie jedes andere Lebewesen dieses Planeten. Ich wußte, daß jeder Ziegelstein und jede Kachel in dieser Stadt in keinem Ofen gebrannt, sondern aus dem Meer gewachsen waren. Die gesamte Insel wirkte auf ihre eigene Weise so ›natürlich‹, daß es das Gras und die Bäume waren, die künstlich aussahen. Dieser Flecken wilder und ›authentischer‹ Natur wirkte fremd und künstlich.
    Ich saß auf einer Bank – aus Riff-Fels, aber weiche als die Pflastersteine (mehr Polymere, weniger Mineralien?) – im Halbschatten einer der (ironisch gemeinten?) palmenförmigen Skulpturen, die den Platz umsäumten. Kein Einheimischer betrat das Gras, also hielt auch ich mich zurück. Mein Appetit war immer noch nicht zurückgekehrt, so daß ich einfach nur dasaß und mich von der warmen Luft und dem Anblick der Menschen berieseln ließ.
    Ohne es zu wollen, erinnerte ich mich an meine lächerlichen Phantasien über endlose sorgenfreie Sonntagnachmittage mit Gina. Wie hatte ich mir jemals einbilden können, sie würde für den Rest ihres Lebens mit mir neben einem Springbrunnen in Epping sitzen wollen? Wie hatte ich nur so lange daran glauben können, sie sei glücklich… wenn alles, was ich ihr gegeben hatte, schließlich unbeachtet und unsichtbar, erstickt und eingesperrt worden war?
    Mein Notepad piepte. Ich zog es aus der Tasche, und Sisyphus gab bekannt: »Die Seuchenstatistik der WHO für den März wurde soeben veröffentlicht. Es sind jetzt fünfhundertdreiundzwanzig Fälle von Qual gemeldet. Das ist eine Steigerung um dreißig Prozent innerhalb eines Monats.« Eine Graphik erschien auf dem Bildschirm. »Im März wurden mehr neue Fälle gemeldet als in den vorigen sechs Monaten zusammengenommen.«
    »Ich kann mich nicht erinnern, um diese Auskunft gebeten zu haben«, sagte ich benommen.
    »Am siebten August des vergangenen Jahres. Um einundzwanzig Uhr dreiundvierzig.« Im Hotelzimmer in Manchester. »Ich zitiere: ›Sag mir Bescheid, falls die Zahlen in die Höhe schnellen sollten.‹«
    »Okay. Was noch?«
    »Außerdem wurden seit deiner letzten Anfrage siebenundzwanzig neue Zeitschriftenartikel zum Thema veröffentlicht.« Eine Titelliste erschien. »Willst du die Zusammenfassungen hören?«
    »Eigentlich nicht.«
    Ich blickte vom Bildschirm auf und sah einen Mann, der auf der anderen Seite des Platzes an einer Staffelei arbeitete. Er war ein stämmiger Weißer, vermutlich in den Fünfzigern, mit sonnengegerbtem Gesicht. Da ich immer noch keinen Hunger hatte, sollte ich meine Zeit vielleicht sinnvoller nutzen, indem ich mir noch einmal Henry Buzzos Vortrag anhörte oder die relevanten Hintergrundinformationen aufarbeitete. Nachdem ich einige Minuten lang über diese Möglichkeit nachgedacht hatte, stand ich auf und ging hinüber, um einen Blick auf das im Entstehen begriffene Werk zu werfen.
    Das Bild war eine

Weitere Kostenlose Bücher