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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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Meeresboden hinabreichte.
    Ungeachtet dessen wurde ich vom Schlaf überwältigt.

 

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15

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    Ich kam zu früh zu Helen Wus Vortrag. Der Hörsaal war fast leer – doch Mosala war bereits eingetroffen und studierte konzentriert ihr Notepad. Ich setzte mich zu ihr – mit einem Sitzplatz Abstand dazwischen. Sie blickte nicht auf.
    »Guten Morgen.«
    Nun blickte sie auf und erwiderte kühl: »Guten Morgen.« Dann wandte sie sich wieder ihrem Notepad zu. Wenn sie sich weiterhin so verhielt, würde das Publikum sofort merken, daß sie sich nur widerwillig filmen ließ.
    Aber auch die Körpersprache konnte nachbearbeitet werden.
    Doch das war nicht der Punkt.
    »Wie klingt das?« sagte ich. »Ich verspreche, nichts von dem zu benutzen, was Sie gestern über die Kulte sagten, wenn Sie einverstanden sind, später eine offiziellere Stellungnahme abzugeben.«
    Sie dachte darüber nach, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
    »Okay, das ist fair.« Sie blickte wieder auf und fügte hinzu: »Ich möchte nicht unfreundlich sein, aber ich muß unbedingt diese Arbeit abschließen.« Sie drehte das Notepad zu mir herum, und ich sah, daß sie einen Artikel von Wu las, der vor etwa sechs Monaten in der Physical Review erschienen war.
    Ich sagte nichts, aber ich mußte vorübergehend schockiert ausgesehen haben. »Der Tag hat leider nicht mehr als vierundzwanzig Stunden«, sagte Mosala zu ihrer Rechtfertigung. »Natürlich hätte ich diesen Artikel schon vor Monaten lesen sollen, aber…« Sie machte eine hilflose, ungeduldige Geste.
    »Kann ich Sie beim Lesen filmen?«
    Sie war entsetzt. »Damit jeder mich durchschaut?«
    »Nobelpreisträgerin holt ihre Hausaufgaben nach«, sagte ich. »Das würde beweisen, daß Sie etwas mit uns Normalsterblichen gemeinsam haben.« Ich hätte beinahe hinzugefügt: »So etwas nennt man bei uns den menschlichen Touch.«
    »Sie können mit dem Filmen anfangen, wenn der Vortrag beginnt«, sagte Mosala mit Entschiedenheit. »So steht es in den Vereinbarungen, die wir getroffen haben. Richtig?«
    »Richtig.«
    Sie las weiter und ignorierte mich jetzt wirklich, denn ihre Befangenheit und Feindseligkeit waren plötzlich verschwunden. Ich verspürte eine tiefe Erleichterung, denn wir beide hatten vermutlich soeben die Dokumentation gerettet. Ihre präzise und treffende Charakterisierung der Kulte mußte einfach publiziert werden, aber sie hatte natürlich das Recht, sich diplomatischer zu diesem Thema zu äußern. Es war ein einfacher und offensichtlicher Kompromiß – ich wünschte mir nur, ich hätte früher daran gedacht.
    Ich reckte den Hals, um einen heimlichen Blick auf Mosalas Notepad werfen zu können (ohne zu filmen). Jedesmal, wenn sie auf eine Gleichung stieß, rief sie eine Art Software-Assistenten auf. Fenster öffneten sich überall auf dem Bildschirm, voller algebraischer Gegenproben und detaillierter Analysen der Einzelschritte in Wus Argumentation. Ich überlegte, ob ich mit einer solchen Hilfe vielleicht mehr von Wus Artikel verstanden hätte. Wahrscheinlich nicht, denn einige der Formeln in den ›erklärenden‹ Fenstern sahen für mich noch unverständlicher als die im Originaltext aus.
    Ich konnte im großen und ganzen den meisten Themen folgen, die in dieser Konferenz zur Sprache kamen – doch Mosala konnte mit computerisierter Hilfe offenbar bis auf die Ebene vordringen, wo die Mathematik einer rigiden Überprüfung standhalten mußte – oder in sich zusammenfiel. Keine verführerische Rhetorik, keine überzeugenden Metaphern, keine Appelle an die Intuition, sondern nur eine Abfolge von Gleichungen, von denen jede einzelne unausweichlich oder nicht zur nächsten führte. Es bewies natürlich überhaupt nichts, wenn eine Theorie diese Inspektion bestand. Eine fehlerfreie Argumentationskette war nicht mehr als ein hübsches Phantasiegebilde, wenn die Voraussetzungen nicht den physikalischen Tatsachen entsprachen. Dennoch war es ein entscheidender Schritt, die innere Stichhaltigkeit der logischen Argumentation zu prüfen.
    Ich sah es so, daß jede Theorie und ihre logischen Konsequenzen – jede Menge allgemeiner Gesetze und die spezifischen Möglichkeiten, die sie diktierten – ein unteilbares Ganzes bildeten. Newtons universelle Gesetze der Bewegung und Schwerkraft, Keplers idealisierte elliptische Planetenorbits und jedes weitere (vor-Einsteinsche) Modell des Sonnensystems gehörten allesamt zum gleichen Ideenmuster, zum gleichen fest geknüpften

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