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Quantum

Quantum

Titel: Quantum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannu Rajaniemi
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gewichtig sie sind. Ich sage ihr, dass ich nichts mehr
damit zu tun haben will.
    Und da vergibt sie mir.
    Aber es ist noch nicht vorbei. Die Versuchung zu fliehen, eine
andere Gestalt anzunehmen, ist immer da.
    Mein Freund Isaac erzählt mir von Gedächtnispalästen und den neun
Eigenschaften Gottes.
    Ich errichte mir einen eigenen Gedächtnispalast. Doch das ist nicht
nur ein mentaler Raum zur Speicherung von erinnerten Bildern, nein, meine
Geheimnisse wiegen schwerer. Hunderte von Lebensjahren. Gegenstände, die ich
dem Sobornost und den Zokus gestohlen habe, Bewusstseine und Lügen, Körper und
Taschenspielertricks.
    Ich baue den Palast aus Gebäuden und Menschen und verschränkten
Qubits; aus dem Stoff, aus dem die Stadt selbst besteht. Und vor allem aus
meinen Freunden. Sie sind alle so vertrauensvoll, so offen, so entgegenkommend.
Sie schöpfen keinen Verdacht, nicht einmal, als ich ihnen eigens angefertigte
Uhren gebe, meine neun Eigenschaften. Ich fülle ihre Exospeicher mit Dingen,
die mir gehören. Ich lagere Picotech-Assembler, die ich dem Sobornost und den
Zokus gestohlen habe, in neun Gebäuden, um notfalls alles wiederherstellen zu
können.
    Dann verschließe ich den Palast hinter mir. Ich habe nicht vor, ihn
jemals wieder aufzusuchen. Ich verschließe ihn zwei Mal, einmal mit einem
Schüssel und einmal mit einem Preis.
    Den Schlüssel gebe ich Raymonde. Und danach fühle ich mich für eine
Weile wieder leicht und frei und jung. Raymonde und ich bauen uns ein Leben
auf. Ich entwerfe Gebäude. Ich züchte Blumen. Ich bin glücklich. Wir sind
glücklich. Wir schmieden Pläne.
    Bis die Box kommt.
    Ich setze mich. Ich betaste mein Gesicht. Es fühlt sich fremd
an, wie eine Maske, unter der sich ein anderes Antlitz, ein anderes Leben
verbirgt. Ich möchte so lange daran kratzen, bis die falsche Schicht abfällt.
    Auch Raymonde sieht anders aus. Sie ist nicht mehr nur das Mädchen
mit den Sommersprossen und den Notenblättern, aber auch nicht der Gentleman.
Sie ist von einem Nimbus von Erinnerungen umgeben, den Geistern von tausend
Augenblicken. Und ich erkenne, dass sie nicht mehr mir gehört.
    »Was ist geschehen?«, frage ich: »Mit dir, mit ihnen?«
    »Was geschieht mit den Menschen? Sie leben. Sie entwickeln sich. Sie
gehen ins Schweigen. Sie kehren zurück. Sie verwandeln sich in etwas Neues.«
    »Ich konnte mich an keinen von ihnen erinnern. Isaac. Bathilde.
Gilbertine. Marcel. Und alle anderen«, sage ich. »Auch an dich konnte ich mich
nicht erinnern. Ich habe mich gezwungen, euch zu vergessen. Damit euch niemand
finden sollte, wenn ich gefasst würde.«
    »Ich möchte gern glauben, dass das der Grund war«, sagt Raymonde.
»Aber ich kenne dich zu gut. Mach dir nicht selbst etwas vor. Du bist
entkommen. Und dann hast du etwas gesehen, das begehrenswerter war als wir.«
Sie lächelt traurig. »Waren wir wirklich ein solcher Mühlstein an deinem Hals,
dass du dich von uns allen losreißen musstest?«
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«
    Raymonde setzt sich neben mich. »Wenn du mich fragst, ich glaube
dir.« Sie schaut zu den Ballonhäusern hinüber. »Es war nicht leicht, nachdem du
fortgegangen warst. Zunächst hatte ich für eine Weile jemand anders gefunden.
Aber das half mir nicht. Dann ging ich für eine Weile vorzeitig ins Schweigen.
Das half ein wenig. Doch als ich zurückkehrte, war ich immer noch wütend. Die
Stille zeigte mir, wie ich meine Wut gegen ein sinnvolles Ziel richten konnte.«
    Sie schließt die Augen und hält sich die Hand vor den Mund. »Was du
für deine Oort-Frau stehlen sollst, ist mir egal«, sagt sie. »Es kann nicht
mehr schlimmer kommen. Du hast gestohlen, was du hättest sein können. Für mich
und für dich selbst. Und das kannst du nie mehr zurückholen.«
    »Du hast mir noch nicht gesagt, was aus…«, setze ich an.
    »Nicht«, wehrt sie ab. »Lass es gut sein.«
    Danach sitzen wir lange Zeit schweigend da und betrachten die
Ballonhäuser. Ich habe den verrückten Wunsch, die Stricke abzuschneiden, damit
sie in den fahlen Marshimmel hinaufschweben können. Aber am
Himmel kann man nicht leben.
    »Ich habe deinen Schlüssel«, sagt Raymonde. »Willst du ihn immer
noch?«
    Ich muss lachen. »Ich kann nicht glauben, dass ich ihn bereits in
Händen hielt.« Ich schließe die Augen. »Ich weiß es nicht. Ich brauche ihn. Ich
habe eine Schuld abzutragen.«
    Ein Teil von mir wünscht sich nichts so sehr wie diesen Schlüssel.
Aber er hat seinen Preis. Das

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