Quarantäne
Reformen in Peking, wirtschaftlich und politisch. Sie kamen und gingen, und mit ihnen gingen immer neue Menschenströme. Die gebildete Mittelklasse war des Wartens auf ein besseres Leben müde, und es gab nur einen Ort, wohin sie strebten. Während das große China immer ärmer wurde und sich mehr und mehr isolierte, blühte das kleine, weltoffene Neu-Hongkong. Im Jahr 2056 überstieg sein Bruttosozialprodukt schon das Australiens.
Bei mehr als Mach 2 braucht man für dreitausend Kilometer nicht mehr als eine gute Stunde. Ich sitze weitab vom nächsten Fenster, aber ich kann das Panorama unter mir auf meinen Bildschirm zaubern, wenn ich nur den richtigen Kanal einstelle. Langsam wandert die Wüste vorbei. Den Kopfhörer habe ich nicht aufgesetzt, die Kommentare sind zu ermüdend, aber ich finde nicht heraus, wie ich die eingeblendeten Texte und Grafiken verschwinden lassen kann. Schließlich gebe ich auf und weise Master an, daß ich schlafen möchte und erst bei der Landung geweckt werden will.
Monsunregen prasselt auf die Betonpiste, während die Maschine aufsetzt, doch fünf Minuten später trete ich aus dem Flughafengebäude hinaus in blendenden Sonnenschein. Nach einer Stunde bei angenehmen dreiundzwanzig Grad empfindet man die Hitze und vor allem die Luftfeuchtigkeit wie einen Schlag ins Gesicht.
Im Norden kann ich zwischen den Wolkenkratzern die riesigen Hafenkräne aufragen sehen; im Osten leuchtet ein blauer Fleck, der Golf von Carpentaria. Vor mir ist die Treppe zur U-Bahn, aber da es nicht mehr regnet, beschließe ich, zu Fuß zu gehen. Ich bin zum ersten Mal in Neu-Hongkong, aber ich habe Déjà-vu (Globetrotter Corp., siebenhundertfünfzig Dollar) aktiviert, das neben dem üblichen Informationspaket für Touristen auch einen Stadtplan auf dem neuesten Stand enthält.
Die schmalen, schwarzen Türme der ersten Jahre wechseln sich ab mit den Bauten im heutigen Stil: verspielte Fassaden in Jade- und Goldimitation, die von Ornamenten förmlich überwuchert werden. Es sind Fraktale, die sich, je länger man schaut, in immer neuen Dimensionen auffächern. Oben auf den Gebäuden erkennt man die Firmenzeichen großer Banken oder wichtiger Informationsdienste. Mir schien es immer absurd, daß Geld oder Daten unter einer bestimmten Flagge segeln müssen, aber Gesetze ändern sich nur langsam, und daß die großzügigen Bestimmungen hierzulande Hunderte von großen Konzernen bewogen hatten, ihren Hauptsitz nach Neu-Hongkong zu verlegen, war nicht verwunderlich – und wenn es nur bis zu jenem Tag sein sollte, an dem die Grenzen fielen, die es für die zwischen den Supercomputern hin- und herfließenden Datenströme schon lange nicht mehr gab.
Unten auf der Straße ist von den Türmen nichts zu sehen. Die Fassaden sind hinter den Buden und Hütten der kleinen Händler verschwunden. Tageslichthologramme in Pai-hua und Englisch flimmern dicht an dicht über den Köpfen; um die Schriftzeichen winden sich blitzende Pfeile, die alle zu einem versteckten Eingang, zu einem winzigen Stand hinweisen, den man sonst unweigerlich übersehen hätte. Prozessoren aller Art, Neuromodule, Musik-ROMs werden angepriesen; man passiert ganze Zeilen von Ständen mit Modeschmuck, Fastfood, Kosmetikmodulen.
Die Menschen, an denen vorbei ich mir einen Weg bahnen muß, sehen wohlhabend aus: Geschäftsleute, Manager, Studenten und die üblichen, kaum zu übersehenden Touristen. Zwölf Grad südlich des Äquators, das ist das Richtige für Besucher aus dem Norden. Sie möchten mitten im Winter ein wenig Sonne auf der Haut spüren, keinesfalls jedoch mit den besten Aussichten auf ein Melanom aus dem Urlaub zurückkehren. Jahrzehnte nach dem Verbot der letzten Ozonkiller ist der Schaden in der Stratosphäre noch immer nicht behoben; das Ozonloch, das sich in jedem Frühling von der Antarktis gen Norden ausbreitet, ist noch immer groß genug, um die Faustregel für das Krebsrisiko auf den Kopf zu stellen: Die Sonnenstrahlung ist nicht in Äquatornähe am gefährlichsten, sondern je weiter man nach Süden, in die gemäßigte Zone, kommt. Deshalb sollte ich mein provinzielles Vorurteil gegen weiße Haut rasch aufgeben, sie ist nicht unbedingt das Merkmal religiöser Fanatiker oder jener Fetischisten, die von der >Reinheit der Gene< schwärmen. Von den Leuten, die hier (oder im alten Hongkong) geboren wurden, dürfte kaum einer sich mit zusätzlichen melaninproduzierenden Zellen versorgt haben, doch sehe ich einen deutlichen Anteil
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