Quarantäne
möglicherweise kamen sie zu dem Schluß, daß unsere Wissenschaft weit genug fortgeschritten war, befremdlich weit, so daß wir allmählich zur Gefahr für sie wurden. Es gab in den zwanziger und dreißiger Jahren genug Astronomen, die nach der dunklen Materie Ausschau hielten – und ihre Geräte wurden jedes Jahr empfindlicher und genauer. Vielleicht ist es ihre Schuld.«
Es ist nicht schwierig, Abstraktionen dieser Art zu verdrängen. Während ich mich durchs Gewühl in den Straßen voranarbeite, scheint mir der Gedanke, daß alle diese Menschen gemeinsam verhindern, daß die Stadt in einem Nebel aus unzähligen denkbaren Zuständen verschwimmt, nicht einfach abwegig – nein, er ist irrelevant. Wie unverständlich und paradox anmutend die Grundfesten unserer vertrauten Wirklichkeit auch immer sein mögen, nichts kann sie davon abbringen, vertraut zu sein. Oder hat uns etwa Rutherfords Entdeckung, daß Atome größtenteils aus leerem Raum bestehen, je daran gehindert, dem Boden unter unseren Füßen zu trauen? Die Wahrheit allein verändert gar nichts.
Was ich nicht so leicht beiseite schieben kann, ist die Tatsache, daß die INITIATIVE sich auf ein heikles Thema eingelassen hat: Barrieren-Forschung. Und es ist ganz gleichgültig, ob das, was man ausgeheckt hat, stimmt oder nicht. Schon der Versuch zählt. Die umfangreichen, fast übertrieben scheinenden Sicherheitsvorkehrungen, die stets präsenten Leibwächter für die Versuchspersonen – das alles hat mit der Sorge, daß die Konkurrenz das Geheimnis stehlen könnte, nichts zu tun.
Die INITIATIVE hat nicht viele Feinde, nein. Nur einen einzigen: die Kinder des Chaos.
Ganz behutsam weckt mich Master, als es an der Tür klopft. Ich bin sofort hellwach – und verdammt sauer, denn es ist kurz nach Mittag, und ich habe erst zwei Stunden geschlafen. Mit einem Infrarotsignal dirigiere ich das Bild des elektronischen Spions auf meinen Fernseher: Der Besucher draußen ist Dr. Lui. Schnell schlüpfe ich in meine Kleider, ich bin mehr als überrascht. Würde man aus irgendeinem Grund meine Dienste benötigen, dann hätte man mich angerufen – was Sache von Tong oder Lee gewesen wäre.
Ich bitte ihn herein. Er schaut sich kurz um, mit einem erstaunten, doch keineswegs mißbilligenden Ausdruck. Als wollte er etwa sagen, daß er es sich so schlimm nun doch nicht vorgestellt hätte – aber nun, da er es wüßte, hätte ich sein volles Mitgefühl. Ich biete ihm eine Tasse Tee an, er lehnt ab – fast überschwenglich, könnte man sagen. Wir wechseln ein paar höfliche Sätze, dann erstirbt das Gespräch. Er lächelt unentwegt ein festgefrorenes Lächeln und sagt nach einer langen, langen halben Minute: »Mein Leben gehört der INITIATIVE, Nick.« Es hört sich an, als sei es heiße Beteuerung und Bekenntnis eines abstoßenden Lasters in einem.
Ich nicke und murmele dann: »Da kann ich mich anschließen.« Das ist die Wahrheit, und einen Grund, mich dafür zu schämen, habe ich nicht – aber Luis Botschaft kann man sich nur schwer entziehen, so daß ich mich allmählich frage, ob das nicht ein Fehler ist.
Er sagt: »Ich weiß, was Sie durchgemacht haben. Diese inneren Kämpfe, diese Widersprüche, die Qualen. Ich weiß.« Daran zweifle ich keinen Moment – und fühle mich mit einem Mal klein und schäbig: Seine Leiden auf dem Höhepunkt der Identitätskrise waren fraglos um einiges schlimmer als die meinen.
»Und ich weiß, daß Sie keineswegs erfreut sein werden, wenn ich Ihren Qualen noch einiges hinzufüge. Aber die Wahrheit wird nun mal unter Schmerzen geboren.«
Ich nicke wie irgendein Idiot, den man ungestraft mit Platitüden füttern kann, während ein nur halb anwesender Teil von mir sich fragt: Ist das das nächste Stadium? Daß man sich an den eigenen Qualen weidet, daß man sich die unauflösbaren Widersprüche, das Ungenügen des eigenen Denkens ständig vor Augen hält? Daß man das Leiden schließlich verklärt und sich zum Märtyrer mit dem Anspruch auf Erlösung stilisiert? Das ist verquer genug, um wieder einen Sinn zu geben: Ich muß das Modul gutheißen – also muß ich auch die damit verbundenen emotionalen und rationalen Konflikte gutheißen… Und was heißt schon Konflikte? Mußte denn nicht jede tiefe Einsicht mit Opfern erkauft, der wahre Glaube erkämpft werden?
»Wir beide wollen der INITIATIVE dienen«, sagt Lui, »aber was heißt das eigentlich? Tag für Tag tun wir unsere Arbeit, folgen den Anweisungen, die man uns gibt, tragen
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