Quarantäne
alleine hatte. Wenn Sie, ebenfalls verschmiert, einen Grashalm ansehen, dann entsteht ein neues System – Nick plus Grashalm –, das ebenso viele Zustände hat wie Sie zuvor alleine, multipliziert mit der Anzahl der Zustände des Grashalms, wie viele das auch sein mögen.
Aber ein System, zu dem Sie gehören, schließt jene den Kollaps auslösende Struktur Ihres Gehirns mit ein – so daß auch sie schließlich über zahllose Versionen des Systems verschmiert ist, wie sie sich aus der Summe der Eigenzustände aller Komponenten ergibt: dem übrigen Gehirn, Ihrem ganzen Körper, dem Grashalm und allem anderen, das sie gerade betrachtet haben. Wenn nun diese Gehirnstruktur selbst kollabiert und eine der möglichen Versionen wirklich werden läßt, dann muß auch alles übrige kollabieren, das ganze System. Alles zusammen reduziert sich auf einen Zustand, in dem eine einzige aus Milliarden von Möglichkeiten >geschieht<. Danach, wie kann es anders sein, beginnt das Verschmieren von neuem…«
Ich sage: »Nun gut, das habe ich verstanden: Man muß erst einmal verschmieren, damit man kollabieren kann. Alle die unzähligen Möglichkeiten müssen gewissermaßen erst dasein, damit eine einzige realisiert wird. Der Kollaps, das ist wie… ein Baum, den man kräftig zurückschneidet; man läßt ihn in alle Richtungen wachsen, dann wählt man den Zweig aus, den man stehen lassen will. Aber wir kollabieren so oft, daß uns der verschmierte Zustand dazwischen gar nicht bewußt wird. Wahrscheinlich hundert Mal in der Sekunde, mindestens.«
Lui runzelt die Stirn. »Was soll das heißen? Wie sollte uns denn >der verschmierte Zustand bewußt werden Das Bewußtsein erscheint uns als stetiger Strom, wohlgemerkt: erscheint! Das ist die Art und Weise, wie das Gehirn unsere Wahrnehmung organisiert. Die Realität entsteht nicht kontinuierlich, sondern in plötzlichen Ausbrüchen wie elektrische Entladungen. Unser gesamtes Erleben wird retrospektiv konstruiert, so etwas wie die Gegenwart gibt es gar nicht – es ist nur die Vergangenheit, die wir auf diese Weise einmalig machen können. Die Frage ist nur, wie oft innerhalb eines gegebenen Zeitabschnitts das geschieht, in welchem Zeitmaßstab. Sie sagen, wenn es nur länger als wenige Millisekunden dauern würde, dann würde uns der Vorgang bewußt werden… Das ist einfach nicht wahr. Es liegt an der Art und Weise, wie die subjektive Zeit entsteht, wie die Vergangenheit in die Zukunft übergeht – für uns. Wir können keinesfalls darüber befinden, wie oder wann es passiert.
Sicher ist, daß Po-kwai in den Experimenten, in denen sie den Kollapsinhibitor des Moduls nicht benutzte, den Eigenzustand nicht beeinflussen konnte – aber das beweist überhaupt nichts. Selbst wenn sie scheiterte, weil das System Po-kwai plus Silberionen kollabierte, bevor sie die Wahrscheinlichkeiten ändern konnte – und das ist bei weitem nicht die einzig mögliche Erklärung –, dann kann man nicht von einer einzigen Versuchsperson, von einem Laborversuch, auf die ganze Menschheit und auf jeden Augenblick eines Menschenlebens schließen. Je nachdem, in welchem Bewußtseinszustand ein Mensch sich befindet, ob er allein oder zu mehreren ist, kann es von einem Kollaps zum andern durchaus Sekunden oder gar Minuten dauern. Es gibt keine Möglichkeit, das nachzuweisen.«
Ich würde ihn am liebsten beim Kragen packen und so lange schütteln, bis ihm der ganze metaphysische Quark aus den Ohren quillt, aber statt dessen sage ich ruhig: »Ich habe Sie um Hilfe gebeten… Mir ist es gleichgültig, wie unser Erleben konstruiert wird, ob Zeit eine Illusion ist. Mir ist es egal, ob etwas nur dann wirklich ist, wenn es mindestens fünf Minuten alt ist. Die Welt bleibt, wie sie war, nichts ändert sich – oder sollte sich nicht ändern; jedenfalls war es bisher so. Und erzählen Sie mir nicht, daß jedermann hundertmal am Tag verschmiert; schließlich hat nicht jedermann Halluzinationen und blöde Defekte an seinen Modulen…«
»Vielleicht doch. Vielleicht hat eben doch jedermann schon solche Erfahrungen gemacht wie Sie – neben unzähligen anderen –, doch niemand erinnert sich daran. Sie können sich nicht daran erinnern; in ihrem Gehirn, ihrem Körper, in der Welt um sie herum findet sich kein Hinweis auf das, was passiert. Diese Erfahrungen können niemals wirklich werden für sie. Nach jedem Kollaps besteht ihre Vergangenheit nur noch aus dem, was am wahrscheinlichsten ist.«
»Und wieso erinnere ich mich
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