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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene Kostenlos Bücher Online Lesen
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Grogans Anruf entgegennahm.
     
    Tess schwieg, als sie die Alley im Auto verließen.
    Marguerite fuhr langsam, versuchte angestrengt, ihre Gedanken zu ordnen. Sie hatte eine wichtige Entscheidung zu treffen.
    Aber erst einmal musste sie wissen, was passiert war. Tess hatte das Schulgelände verlassen, war zum Auge hinübergewandert und hatte Charlie aufgestört, so viel war klar. Aber warum?
    »Es tut mir leid«, sagte Tess, nachdem sie ihr bereits einige ängstliche Blicke zugeworfen hatte. Bin ich. fragte sich Marguerite, derart furchteinflößend? Ankläger und Richter zugleich? Nimmt sie mich so wahr?
    »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Marguerite. »Pass auf. Ich werde Mr. Fleischer anrufen und ihm sagen, dass du einen Termin hattest, aber vergessen hast, ihm die Mitteilung zu übergeben. Was hältst du davon?«
    »Okay«, sagte Tess zurückhaltend, wartete auf den Haken.
    »Aber bestimmt macht er sich Sorgen um dich, und ich auch. Wie kommt es, dass du heute Nachmittag nicht in den Unterricht zurückgegangen bist?«
    »Ich weiß nicht. Ich wollte einfach zum Auge gehen.«
    »Aber wieso? Ich dachte, es gefällt dir dort gar nicht. Die Führung in Crossbank fandest du damals furchtbar.«
    »Hatte einfach Lust dazu.«
    »So doll, dass du die Schule geschwänzt hast?«
    »Anscheinend.«
    »Wie bist du reingekommen? Mr. Grogan scheint sich darüber ein bisschen aufgeregt zu haben.«
    »Einfach durch die Tür. Es hat grad keiner hergeguckt.«
    Das jedenfalls traf vermutlich zu. Tess war viel zu arglos, um sich in ein Gebäude hineinzumogeln oder einen versteckten Eingang aufzuspüren. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie einfach zur Vordertür gegangen und hatte sie geöffnet: Charlies Untersuchung des Vorgangs würde auf einen schläfrigen Wachmann stoßen oder einen Angestellten, der sich mal eben kurz verdrückt hatte, um einen Joint zu rauchen. »Hast du gefunden, was du gesucht hast?«
    »Ich hab eigentlich nichts Bestimmtes gesucht.«
    »Irgendwas Neues gelernt?«
    Tess zuckte die Achseln.
    »Weißt du, das ist nämlich ein für dich ziemlich untypisches Verhalten. Du hast vorher noch nie die Schule geschwänzt.«
    »Es war wichtig.«
    »Inwiefern wichtig, Tess?«
    Keine Antwort – nur ein Stirnrunzeln und Tränen in den Augen.
    »Hat Mirror Girl was damit zu tun?«
    Tessas unglücklicher Gesichtsausdruck verdichtete sich zu reinstem Elend. »Ja.«
    »Sie hat dir gesagt, du sollst hingehen?«
    »Sagen tut sie mir nie etwas. Sie wollte einfach hin, also bin ich gegangen.«
    »Tja, und was hat Mirror Girl dort gesucht?«
    »Ich weiß nicht. Ich glaube, sie wollte nur sehen, ob sie ihr Spiegelbild sehen kann.«
    »Ihr Spiegelbild? Wo denn?«
    »Im Auge«, sagte Tess.
    »Ein Spiegel im Auge? Diese Art Teleskop ist das nicht. Es hat keinen richtigen Spiegel.«
    »Nicht in einem Spiegel – in dem Auge.«
    Marguerite wusste nicht, wie sie fortfahren, was sie als Nächstes fragen sollte. Sie hatte Angst vor Tessas Antworten, sie klangen verrückt – verrückt: das verbotene Wort, der unaussprechliche Gedanke. Sie hasste dieses Gerede über Mirror Girl, weil es verrückt klang, und Marguerite glaubte das nicht ertragen zu können. Fast alles andere lieber als das, eine Verletzung, eine Krankheit; sie konnte sich Tess in Beinschienen oder einer Armschlinge vorstellen; sie war imstande, sie zu trösten, wenn sie sich wehgetan hatte; das spielte sich alles im Rahmen ihrer mütterlichen Kompetenz ab. Aber bitte, dachte sie, keine Geisteskrankheit, kein starrsinniges Irresein, das jeden Trost, jede Kommunikation ausschließt. Während des Studiums hatte Marguerite nachts auf einer psychiatrischen Station gejobbt. Sie hatte unheilbar an Schizophrenie Erkrankte erlebt, Verrückte, die in ihrer persönlichen albtraumhaften Realität lebten, so einsam, so verlassen, wie man es selbst durch totale körperliche Isolation nicht sein könnte. Sie verweigerte sich der Vorstellung, auch Tess könnte zu diesen Menschen gehören.
    Sie bog auf den Schulparkplatz ein, bat Tess jedoch, noch einen Augenblick sitzen zu bleiben.
    Tod und Geisteskrankheit: Konnte sie ihre Tochter wirklich vor diesen Gefahren schützen? Ich kann sie nicht einmal vor Ray beschützen.
    Ray hatte gedroht, Tess bei sich zu behalten, das materielle Sorgerecht an sich zu reißen – sie, auf Deutsch gesagt, zu entführen. Aber im Moment ist sie bei mir, dachte Marguerite. Und wenn ich die Wahl hätte, würde ich sie von hier wegbringen, würde mit

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