Quarantaene
vielfältig? Beides: Er ist allgegenwärtig, weil Er dem physischen Prozess des Universums innewohnt, aber Sein Geist ist (für den Menschen) erkennbar allein in vereinzelten und oft ungleichartigen Fragmenten. Gibt es ein Leben nach dem Tod oder gar eine Reinkarnation? Im entschieden buchstäblichen Sinne: nein; aber da unser Bewusstsein ein geborgtes ist, lebt es unabhängig von unserem Körper weiter, und sei es als ein winziger Teil von etwas, das fast unendlich viel größer ist.
Sue begriff, worauf er abzielte. Er wollte den Menschen den Trost der Religion gewähren, aber ohne den Ballast des Dogmatismus. Er ging recht unbekümmert mit seiner Wissenschaft um, und das ging manchen Leuten schwer gegen den Strich, wie zum Beispiel Elaine Coster. Aber er hatte das Herz am rechten Fleck. Er strebte eine Religion an, die geeignet war, Witwen und Waisen zu trösten, ohne sie dem Patriarchat, der Intoleranz, dem Fundamentalismus oder seltsamen Ernährungsvorschriften zu unterwerfen. Er wollte eine Religion, die sich nicht in einem permanenten Handgemenge mit der modernen Kosmologie befand.
Wirklich kein schlechtes Programm, befand Sue. Aber wo ist mein Trost? Der Trost für die gemeine Diebin, die untreue Büroangestellte? Vergib mir, denn ich weiß genau, was ich tue, und ich zweifle sehr an diesem Tun. Vorausgesetzt, dass es darauf überhaupt noch ankam. Vorausgesetzt, dass sie nicht eh alle dem Untergang geweiht waren. Sie hatte das Fragment des Zeitschriftenartikels im Sawyer’s gelesen und daraus ihre eigenen Schlüsse gezogen.
Sebastian kam die Treppe herunter, frisch geduscht und in seiner besten Freizeitkleidung: blaue Jeans und ein grüner Strickpullover, der aussah wie etwas, das ein englischer Geistlicher in die Kleiderspende gegeben hatte.
»Heute findet der große Raub statt.«
»Wie fühlst du dich?«
»Ich hab Angst.«
»Weißt du, du musst das nicht tun. Es war edel von dir, dich dazu bereit zu erklären, aber niemand wird etwas sagen, wenn du es dir anders überlegst.«
»Niemand außer Elaine.«
»Na ja, vielleicht Elaine. Aber mal im Ernst …«
»Ist schon gut, im Ernst. Du musst mir nur eins versprechen.«
»Nämlich?«
»Wenn ihr da im Saal sitzt bei der Veranstaltung … ich meine, ich weiß, die anderen passen auf und rufen an, falls Ray plötzlich abhaut und zur Plaza fährt. Aber der Einzige, dem ich wirklich vertraue, das bist du.«
Er nickte, mit großen Eulenaugen und noch größerer Ernsthaftigkeit.
»Ich brauche mindestens fünf Minuten Vorwarnzeit, wenn Ray unterwegs ist.«
»Kriegst du«, sagte Sebastian.
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Der Vormittag verging allzu schnell. Die Bürgerversammlung sollte um ein Uhr beginnen, und sie bat Sebastian zu fahren, damit er sie unauffällig vor der Hubble Plaza absetzen konnte. Sie sprachen nicht viel im Auto. Als er anhielt, gab sie ihm einen flüchtigen Kuss. Dann trat sie hinaus in die kalte Luft, verschaffte sich mit ihrer Karte Einlass am Haupteingang der Plaza, winkte dem Wachhabenden in der Vorhalle zu und ging ohne augenscheinliche Eile zu den Fahrstühlen. Ihre Schritte tönten in der gefliesten Halle wie das Klicken eines Metronoms, allegro, taktgleich mit dem Schlag ihres Herzens.
Marguerite traf um Viertel vor eins im Hörsaal des Gemeindezentrums ein. und als sie Ari Weingart entdeckte, der in der bereits versammelten Menschenmenge nach ihr Ausschau hielt, sagte sie zu Chris: »O Gott, das hier ist ein böser Fehler.«
»Was, der Vortrag?«
»Nicht der Vortrag. Mit Ray auf einer Bühne zu stehen. Ihn ansehen zu müssen, ihm zuhören zu müssen. Ich wünschte, ich könnte … oh, hallo, Ari.«
Ari fasste sie fest am Arm. »Hier entlang, Marguerite. Sie sind als Erste dran, hatte ich das schon gesagt? Danach Ray und dann Lisa Shapiro von der Geologie und Klimatologie, und anschließend können die Zuhörer Fragen stellen.«
Sich von Ari abführen lassend, warf sie noch einen letzten Blick auf Chris, der die Achseln zuckte und ihr auf eine Weise zulächelte, die sie als aufmunternd interpretierte.
Aber mal im Ernst, dachte sie, während sie Ari durch eine dem Personal vorbehaltene Tür ins Halbdunkel hinter der Bühne folgte, das hier ist total wahnsinnig. Nicht nur, weil sie gezwungen war, gemeinsam mit Ray aufzutreten, sondern auch, weil sie beide eine Scharade würden aufführen müssen. Alle beide mussten sie so tun, als hätten sie keine Hinweise auf eine Katastrophe in Crossbank (welcher Art auch
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