Quarantaene
erscheinen, ganz als sei zusammen mit der dünnen kanadischen Luft auch Isolation und Besorgnis eingeströmt.
Während sie auf den Fahrstuhl wartete, sah sie Ray, ihren Exmann, der gerade in den Kiosk der Eingangshalle schlüpfte, wahrscheinlich um sich seine morgendliche Dosis an DingDongs abzuholen. Ray war ein Mensch von überaus strengen Gewohnheiten, und eine davon war, dass er zum Frühstück DingDongs essen musste. Ray pflegte einen erstaunlichen Aufwand zu treiben, um sich jederzeit einen ausreichenden Vorrat zu sichern, sogar auf Geschäftsreisen oder in den Ferien. Er packte DingDongs in Tupperware-Schüsseln und verstaute sie in seinem Handgepäck. Ein Tag ohne DingDongs brachte seine schlechteste Seite zum Vorschein: einen Missmut, der sich beim kleinsten Anlass fast zu Tobsuchtsanfällen steigern konnte. Sie behielt den Kioskeingang im Auge, während der Fahrstuhl aufreizend langsam aus dem zehnten Stock herabstieg. Gerade als die Glocke ging, erschien Ray mit einer kleinen Tüte in der Hand. Die DingDongs, keine Frage. Die er zweifellos hinter der geschlossenen Tür seines Büros verschlingen würde: Ray wollte nicht beim Essen von Süßigkeiten gesehen werden. Marguerite stellte sich vor, wie er mit einem DingDong in jeder Faust dasaß, daran knabberte wie ein durchgedrehtes Eichhörnchen und Krümel über sein gestärktes weißes Hemd und die gedeckte Krawatte verstreute. Sie trat mit drei anderen Leuten in den Fahrstuhl und drückte sofort auf den Knopf für ihr Stockwerk, um sicherzustellen, dass die Türen sich schlossen, bevor Ray auf die Idee kam, noch schnell mitfahren zu wollen.
Bei ihrer eigenen Arbeit – die sie liebte und um die sie hart gekämpft hatte – kam sich Marguerite manchmal wie ein Voyeur vor. Ein bezahlter, sachlich-nüchterner Voyeur zwar, aber eben doch ein Voyeur.
Dieses Gefühl hatte sie in Crossbank nicht gehabt; aber dort war ihr Talent auch vergeudet worden, dort hatte sie fünf Jahre damit zugebracht, im Archiv zu sitzen und aus den dort gesammelten Studien botanische Details zu destillieren, eine Arbeit, die jeder halbwegs aufgeweckte Examensstudent hätte erledigen können. Sie konnte noch immer die vorläufigen lateinischen Doppelnamen für achtzehn Sorten von Bakterienmatten aufsagen. Nach einem Jahr hatte sie sich so sehr an den Anblick des Meeres auf HR8832/B gewöhnt, dass sie das Gefühl hatte, es riechen zu können, den fast toxischen Gehalt an Chlor und Ozon, den die photochromatischen Prüfverfahren ermittelt hatten, einen sauren und irgendwie öligen Geruch, ein bisschen wie Abflussreiniger. In Crossbank war sie nur gewesen, weil Ray sie mitgenommen hatte – Ray hatte dort in der Verwaltung gearbeitet –, und sie hatte mehrere Angebote abgelehnt, sich nach Blind Lake versetzen zu lassen, in erster Linie, weil Ray den Wechsel nicht billigte.
Dann hatte sie allen Mut zusammengenommen, die Scheidung eingereicht und anschließend diese Stelle als Beobachterin angenommen, nur um kurz darauf zu erfahren, dass sich Ray seinerseits nach Blind Lake hatte versetzen lassen. Damit nicht genug, zog er auch noch einen Monat, bevor Marguerites Wechsel über die Bühne gehen sollte, nach Westen, etablierte sich als feste Größe am Lake und untergrub vermutlich Marguerites Reputation bei den Angehörigen der höheren Verwaltungsebene.
Doch sei’s drum, sie machte die Arbeit, für die sie ausgebildet worden war, die sie so lange angestrebt hatte: die größte Annäherung an eine praktische Astrozoologie, die die Welt bisher erlebt hatte.
Sie schlängelte sich durch das Labyrinth der von technischem Personal besetzten Schreibtische, grüßte Büroassistenten, Sekretärinnen und Programmierer, machte in der Personalküche Station, um ihren als Souvenir mit Blind-Lake-Hummer-Motiv erworbenen Becher mit verkochtem Kaffee und einem Sahne-Milch-Gemisch zu füllen, trat dann in ihr Büro und schloss die Tür hinter sich.
Papiere bedeckten ihren Schreibtisch, E-Paper machten sich auf ihrem virtuellen Desktop breit. Alles Arbeit, die zu erledigen war, in der Hauptsache routinemäßige Abhakvorgänge, die zwar notwendig, aber auch frustrierend langweilig und zeitraubend waren. Nun, mindestens einen Teil davon konnte sie später, zu Hause, in Angriff nehmen.
Heute wollte sie ein wenig Zeit mit dem Subjekt verbringen. Reine Zeit – Realtime. Sie schloss die Jalousien vor dem Fenster, dämpfte die Schwefeldeckenlampe und ließ den Monitor aufleuchten, der die gesamte
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