Quarantaene
Sumpfgebiet«, wie Mr. Fleischer gesagt hatte, 250 Hektar feuchte Wiesen und flaches Moor. Das Land war mit Grashöckern und breiten Teichkolbenbüscheln überwachsen, und auf den freien Wasserflächen konnte sie rastende Kanadagänse ausmachen, die schon den ganzen Herbst über in lärmender V-Formation über den Ort hinweggeflogen waren.
Dahinter war noch ein weiterer Zaun, beziehungsweise war es derselbe Zaun, der das gesamte Nationale Laboratorium von Blind Lake und noch dazu das Sumpfgebiet umgab. Dieses Land war eingezäunt, aber es war dennoch wild. Es lag innerhalb des sogenannten Sicherheitsperimeters. Falls sie in dieses Moorgebiet hineinwanderte, war Tess vor Terrorangriffen und Spionageagenten sicher, möglicherweise jedoch nicht vor beißenden Schildkröten oder Moschusratten. (Sie wusste nicht, wie Moschusratten aussahen, aber Mr. Fleischer hatte gesagt, dass sie hier lebten, und Tess gefiel schon der Klang des Namens nicht.)
Sie ging noch ein Stück weiter hügelabwärts, bis Wasser unter dem Druck ihrer Füße aus dem Boden quoll und die Teichkolben sich vor ihr auftürmten wie braune Wachposten mit Wollköpfen. In einer Pfütze unbewegten Wassers zu ihrer Linken sah sie ihr Spiegelbild.
Falls es nicht Mirror Girl war, die sie ansah.
Tess war kaum willens, diese Möglichkeit auch nur ganz im Geheimen in Betracht zu ziehen. Es hatte so viel Ärger in Crossbank gegeben. Psychologen, Psychiater, all die endlosen und zum aus der Haut Fahren geduldigen Fragen, die man ihr gestellt hatte. Die Blicke, mit denen die Leute sie angesehen hatten, sogar ihr Vater und ihre Mutter, als hätte sie etwas ganz und gar Schändliches getan, ohne es zu wissen. Nein, lieber nicht. Nicht schon wieder.
Mirror Girl war nur ein Spiel gewesen.
Das Problem war, dass das Spiel sich sehr real angefühlt hatte. Nicht wirklich real, so wie ein Stein oder ein Baum real und solide waren. Aber realer als ein Traum. Realer als ein Wunsch. Mirror Girl sah genauso aus wie Tess und hatte nicht nur Spiegel bewohnt (in denen war sie zuerst erschienen), sondern auch die leere Luft. Mirror Girl flüsterte Fragen, auf die Tess nie gekommen wäre, Fragen, die sie nicht immer beantworten konnte. Mirror Girl, hatten die Therapeuten gesagt, sei Tess’ eigene Erfindung, aber Tess glaubte nicht, dass sie eine so hartnäckige und oft lästige Persönlichkeit, wie Mirror Girl eine gewesen war, erfinden konnte.
Sie riskierte noch einen Blick auf das spiegelnde Wasser zu ihren Füßen. Wasser voller Wolken und Himmel. Wasser, in dem ihr eigenes Gesicht aus einem verzerrten Winkel zurückblickte und zu lächeln schien, als würde es sie wiedererkennen.
Tess, sagte der Wind, und ihr Spiegelbild löste sich in kräuselnden Wellen auf.
Sie dachte an das Astronomiebuch, in dem sie gelesen hatte. An die Tiefe der Zeit und des Raumes, wo sogar eine Eiszeit nur ein kurzer Moment war.
Tess, flüsterten die Teichkolben und die Binsen.
»Geh weg!«, sagte Tess wütend. »Ich will keinen Ärger mehr deinetwegen.«
Noch einmal meldete sich der Wind mit einer starken Bö, dann legte er sich, doch das Gefühl einer unerwünschten Anwesenheit blieb.
Tess wandte sich von dem plötzlich bedrohlichen Sumpfland ab. Als sie nach Westen blickte, stellte sie fest, dass die Sonne aus einer Wolkenformation linste, die sich fast auf gleicher Höhe wie die Hügelkuppe befand. Sie sah auf die Uhr. Es war vier. Der Hausschlüssel, den sie an einer Kette um den Hals trug, erschien ihr jetzt wie die Eintrittskarte zum Paradies. Sie wollte nicht mehr hier draußen in dieser nassen Einsamkeit sein. Sie wollte nach Hause, den bleischweren Rucksack los sein, sich in die Sofaecke kuscheln mit irgendwas Schönem auf dem Videoschirm oder einem Buch in der Hand. Sie fühlte sich plötzlich unsicher und schuldig, als hätte sie etwas falsch gemacht, einfach dadurch, dass sie hergekommen war, obwohl es diesbezüglich gar keine Verbote gab (nur Mr. Fleischers beiläufige Bemerkung, dass man sich in dem Moor durchaus verlaufen könne und das flache Wasser nicht immer so flach sei, wie es aussehe).
Ein großer blauer Reiher stieg aus den Binsen auf, nur wenige Meter entfernt, peitschte die Luft mit seinen Flügeln. Er hatte etwas Grünes, Zappelndes in den Schraubstock seines Schnabels geklemmt.
Tess drehte sich um und rannte hinauf auf den Hügelkamm, begierig auf den beruhigenden Anblick von Blind Lake (der Stadt). Wind pfiff in ihren Ohren, und das Flattergeräusch ihrer
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