Quarantaene
dass wir beide die Augen offen halten müssen, was Tess betrifft. Problemen begegnen, bevor sie auftreten.«
»Meine Augen sind immerzu offen, Mr. Fleischer.«
»Nun, das ist gut. Das ist das Wichtigste. Kann ich Sie anrufen, wenn ich der Meinung bin, wir sollten uns noch einmal in Verbindung setzen?«
»Jederzeit«, sagte Marguerite, lächerlich dankbar dafür, dass das Gespräch sich seinem Ende zu nähern schien.
Fleischer erhob sich. »Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben, und ich hoffe, ich habe Sie nicht in Unruhe versetzt.«
»Überhaupt nicht.« Eine schreiende Lüge.
»Meine Tür steht Ihnen immer offen, falls Sie Ihrerseits etwas auf dem Herzen haben.«
»Danke. Das ist sehr freundlich.«
Sie eilte den Flur hinunter zum Ausgang, als würde sie fluchtartig den Schauplatz eines Verbrechens verlassen. Es war ein Fehler gewesen, Ray zu erwähnen, dachte sie, aber seine Fingerabdrücke lagen über dieser ganzen Begegnung, und was für ein abgekartetes Spiel es doch gewesen war – und wie typisch für Ray, Tessas Probleme als Waffe zu benutzen!
Es sei denn, dachte Marguerite, ich mache mir etwas vor. Es sei denn, Tessas Probleme gingen tiefer als eine leichte Persönlichkeitsstörung; es sei denn, der ganze Zirkus von Crossbank war im Begriff, seine Neuauflage zu erleben … Sie wollte alles tun, um Tess durch diese schwierige Phase zu helfen, wenn sie nur gewusst hätte, wie sie ihr helfen könnte, aber es schien kaum möglich, Tessas hartnäckige Gleichgültigkeit zu durchbrechen … vor allem, wenn Ray auch noch dazwischenfunkte mit seinen psychologischen Spielchen, um sich wer weiß für irgendeine hypothetische Sorgerechtsschlacht in Stellung zu bringen. Ray, der jeden Konflikt als Krieg auffasste und getrieben war von der Furcht, diesen zu verlieren.
Marguerite drängte durch die Tür hinaus in die herbstliche Luft. Der Nachmittag hatte sich dramatisch abgekühlt, und die Wolken waren nähergekommen, oder jedenfalls schien es so im Licht der tiefstehenden Sonne. Der leichte Wind war frostig, aber hoch willkommen nach der klaustrophobischen Wärme des Klassenzimmers.
Als sie in ihr Auto stieg, hörte sie Sirenengeheul. Sie fuhr vorsichtig zur Ausfahrt und wartete, bis das Fahrzeug der Sicherheitskräfte von Blind Lake vorbeigerauscht war. Es schien in Richtung Südtor unterwegs zu sein.
Neun
Sue Sampel, Ray Scutters Assistentin, klopfte an seine Tür und erinnerte ihn daran, dass er in zwanzig Minuten einen Termin mit Ari Weingart habe. Ray blickte von einem Stapel Ausdrucke auf und schürzte die Lippen. »Danke, das weiß ich.«
»Und um vier kommt der Mann von der Zivilen Sicherheit.«
»Ich bin durchaus in der Lage, meinen Terminkalender zu lesen, danke sehr.«
»Dann ist ja gut«, sagte Sue. Du mich auch! Ray war in düsterer Stimmung an diesem Mittwoch – nicht dass je eitel Sonnenschein bei ihm geherrscht hätte. Sie vermutete, dass ihm, wie allen anderen auch, die Abriegelung zu schaffen machte. Sie hatte Verständnis für die Sicherheitsbelange und sie konnte sich sogar vorstellen, dass es notwendig sein mochte (Gott weiß warum allerdings), selbst Telefongespräche nach außerhalb unmöglich zu machen. Aber wenn das noch lange so weiterging, würden die Leute ernsthaft sauer werden. Viele waren es bereits. Für die Tagesarbeiter, die ihren Lebensmittelpunkt (Ehepartner, Kinder) außerhalb von Blind Lake hatten, galt das mit Sicherheit. Aber auch für die ständigen Bewohner. Sue selbst zum Beispiel. Sie wohnte im Lake, aber was Männerbekanntschaften betraf, orientierte sie sich nach außerhalb, und so war sie ausgesprochen darum besorgt, den überaus wichtigen zweiten Anruf von einem Mann zu erhalten, den sie bei einer Single-Veranstaltung in Constance kennengelernt hatte, ein Mann in ihrem Alter, Mitte vierzig, ein Tierarzt mit sich lichtenden Haaren und sanften Augen. Sie stellte sich vor, wie er das Telefon in der Hand hielt, traurig auf die Anzeige KEIN SIGNAL/SERVER NICHT VERFÜGBAR blickte und sie schließlich abschrieb. Wieder eine verpasste Gelegenheit. Wenigstens wäre es diesmal nicht ihre Schuld.
Ari Weingart platzte genau zur verabredeten Zeit ins Büro. Guter alter Ari: höflich, lustig, sogar pünktlich. Ein Heiliger.
»Der Chef da?«, fragte er.
»Wie der glückliche Zufall so spielt. Ich sag ihm Bescheid, dass Sie da sind.«
Ray Scutters Fenster im fünften Stock von Hubble Plaza ging nach Süden hinaus, und oft sah er sich von der Aussicht
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